Ein zugleich wesentliches Symbol sowie permanente Praktik innerhalb der Republik Venedig waren die Wahlen zu politischen Ämtern. Jeden Sonntag und an bestimmten Feiertagen versammelten sich etwa 1500 Patrizier im Dogenpalast, um die Kandidaten für die ungefähr 800 entsprechenden zu verteilenden Positionen der Republik Venedig zu wählen. Die Amtszeit betrug nie mehr als 48 Monate, mit Ausnahme der prestigeträchtigsten Würden der Republik: des Dogen und der Prokuratoren von San Marco (S. 13). Die dauernden Wahlen in Venedig wurden seit dem 16. Jahrhundert in ganz Europa publizistisch kommentiert, sie gehörten zum Teil des Mythos der Republik. Dies machte das Wesen dieses Staates als Adelsrepublik aus und eine solche Wahrnehmung sorgte unter anderem dafür, dass im monarchisch dominierten Europa der Frühen Neuzeit eine partizipative Form der Regierungsteilhabe nie in Vergessenheit geriet. Dabei waren die Wahlmodi dermaßen komplex, dass Parteiungen verhindert wurden und zugleich doch die würdigsten Kandidaten die Ämter erhielten – so zumindest der Anspruch. Frederic Lane hat hier 1973 in seinem Grundlagenwerk zu Venedig eine verpasste Chance der Republik gesehen, denn »without parties, Venetian republicanism concentrated more and more narrowly on just preserving the forms of institutions created by much idealized ancestors« (Frederic C. Lane, Venice – A Maritime Republic. Baltimore/London 1973, S. 405). Es wird auf diesen etwas unbekannteren Aspekt der verbreiteten Niedergangsthese Venedigs im 18. Jahrhundert zurückzukommen sein.

Maud Harivel fokussiert in ihrer Arbeit auf die politischen Wahlen in Venedig zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert, die sie in Hinsicht auf Verteilungsgerechtigkeit und Korruptionspraktiken beleuchten will. Im Kern bedeutet dies eine Untersuchung der formalen Praktiken und des rechtlich-normativen Rahmens der politischen Wahlen in Venedig sowie deren Veränderungen im Laufe der Jahrhunderte. Dabei interessiert sie das Paradox, wie das »System« mit der Tatsache umging, dass Gruppen und Einzelpersonen die verschiedenen Modi zu umgehen suchten, die mithin Parteiungen und Vorteilsnahme gerade von Familien und mächtigen Individuen ausschließen sollten. Zeitgenössisch waren solche Praktiken als »broglio« bekannt, und die durch eine Reihe an Gesetzen vermieden werden sollten. Jedoch bestand in Venedig auch ein anerkanntes Interesse daran, dass Wahlergebnisse kalkulierbarer wurden und die Bedeutung gewisser Familien und Individuen reflektierten. Dies sollte verhindern, dass ungeeignete und wenig bemittelte Patrizier bedeutende Ämter erringen konnten. Daher gab es zugunsten der mächtigen Patrizierfamilien eine Grauzone von tolerierten Wahlpraktiken, die als »broglio onesto« (ehrliche Wahlmanipulation) bekannt war. Diese implizit immer wieder neu ausgehandelten Wahlbeeinflussungen bezeichnet Harivel in ihrer Arbeit als »huile du système«. Solche Praktiken stellen sich als ein subtiles Spiel zwischen den Institutionen einerseits und den Mitgliedern der venezianischen Führungsschicht andererseits dar, das darauf abzielte, den Rahmen des normativen Systems aufrechtzuerhalten und gleichzeitig kleine Verstöße im Rahmen eines implizit Tolerierbaren zuzulassen.

Um diese komplexe Zone des legal-illegalen im Kernbereich der Republik und ihrer Verfassungspraxis zu beleuchten, geht Harivel schrittweise vom legalen über den halblegalen bis zum illegalen Bereich der Wahlpraktiken vor. Zunächst werden in einer zwanzigseitigen Einleitung das Thema und die zentralen Begrifflichkeiten sowie der venezianische Mythos und die einschlägige Literatur vorgestellt und eingehend diskutiert. Es folgt ein fast dreißigseitiges weiteres einleitendes Kapitel, das die genutzten Archivalien vorstellt und die Normativität des Wahlverfahrens für den Großen Rat und den Senat ausführlich darstellt.

Daran anschließend beginnt der erste von drei großen Abschnitten des Buches, betitelt »Au-delà de l’autorisé«. Auf etwa 60 Seiten werden die Orte und Akteure der potentiellen Wahlmanipulationen vorgestellt, sowie die Maßnahmen, die dagegen unternommen wurden. Hier wird zunächst untersucht, wie die Behörden den Tatbestand des Wahlbetrugs in all seinen legislativen Nuancen auffassten. Daraufhin werden Präventionsmaßnahmen analysiert, die das Ziel hatten, Wahlmanipulationen zu verhindern.

Es folgt ein zweiter großer Abschnitt über »La zone grise« von etwas mehr als 70 Seiten. Hier beleuchtet Harivel die Praktiken, die die Patrizier entwickelten, um die Wahlen ohne Gesetzesbruch zu beeinflussen. Die herrschende Klasse entwickelte ein normatives System, das zwischen betrügerischen und legitimen Handlungen beim Wahlvorgang unterschied. Harivel stellt den »broglio« mitsamt dessen Manövern vor der Wahl dar. Ein Dekret zur Verschärfung der Maßnahmen gegen Wahlmanipulation von 1697 wird von Harivel besonders eingehend beleuchtet, da dies zu einer Reihe an Schriften über das Wahlverfahren Anlass gab.

Der dritte Teil von fast 90 Seiten Länge handelt von der »zone noire«, also von Fällen der Wahlmanipulation, bei denen die Behörden strafverfolgend vorgingen. Es sind wenige Fälle aktenkundig überliefert, was auf eine Zurückhaltung schließen lässt, tatsächlich Ermittlungsverfahren einzuleiten. Jedoch konnte auch dadurch die Justiz zum Arm im politischen Machtkampf werden, wie Harivel anhand der Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Parteien um das Jahr 1780 zeigt. Harivel stellt im Folgenden das System der »dichiarazioni« dar, welche es Familien ermöglichten, gewisse Posten zwischen sich aufzuteilen, was vor allem ärmeren Patriziern spezifische Ämter mit stabilen Einkünften sicherte. Formal eigentlich nicht legal, zeigt sich dieses System als »une solution idéale« (S. 284), da damit Konkurrenz vermindert bis vermieden und damit die Kontingenz des Wahlverfahrens verringert wurde, was die finanzielle Existenz weniger wohlhabender Patrizier garantierte.

In den Schlussfolgerungen von etwa fünf Seiten betont Harivel noch einmal die historische Legitimation des Wahlvorgangs und dessen entsprechend hohe symbolische Bedeutung als Verkörperung der republikanischen Prinzipien. Unter Verweis auf Wolfgang Reinhardt bezeichnet sie den »broglio onesto« als Mikropolitik in Venedig. Sie sieht diesen als ein System, das zwar gewissen ähnlichen Praktiken derselben Zeit in Bern, Hamburg oder Amsterdam nicht unähnlich gewesen ist; aber in Venedig kamen doch noch einige weitere Elemente hinzu. Die dauernden Wahlen machten einen quantitativen und damit auch qualitativen Unterschied und eine gänzliche Kontrolle über deren Ausgang gelang auch in Venedig den mächtigeren Familien nicht. Das System behielt eine hinreichende Dynamik, sodass die Wahlen nicht zu einem entleerten Ritual wurden. Harivel sieht hier eine Kultur entstehen, die wir heute als »campagne électorale« bezeichnen würden. Beschlossen wird der Band von 80 Seiten an Glossar, Quellen- und Literaturverzeichnis, sowie 22 detaillierten Anhängen, die einen tiefen Einblick in die behandelte Materie ermöglichen.

Der Arbeit gelingt es, eine komplexe Materie in hohem Detailgrad zu erfassen und dies trotz großer Quellenverluste der einschlägigen Registraturen. Die Bibliografie ist äußerst reichhaltig und die Quellenanalyse geht von normativen Quellen über Prozessakten bis hin zu Tagebüchern oder der zeitgenössischen Publizistik. Harivel lässt sich nicht vom Mythos Venedig – aber auch nicht vom Gegenmythos – in ihrer Darstellung leiten und entwickelt eine ganz eigene Sicht der Praktiken von Wahlen und Wahlmanipulationen und ihrer Effekte. Diese Republik und ihre Wahlen stehen in Harivels Darstellung jenseits von Zuschreibungen wie Niedergang oder Korruption.

Damit kann auf Frederic Lanes Hypothese zurückgekommen werden. Anstelle der von ihm konstatierten Erstarrung agierten in Venedig offenkundig Parteien, die ihre eigenen Wahlkämpfe führten und einem dynamischen politischen Prozess unterworfen waren. Die Durchleuchtung dieses grundlegenden Aspekts der venezianischen Geschichte ist Harivel gelungen und damit hat sie implizit ein großes Fragezeichen hinter diese Variante der Niedergangsthese gesetzt. Es steht zu hoffen, dass das Buch eine weite Rezeption erfahren und zu einer erneuerten Sicht auf die Adelsrepublik beitragen wird.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Magnus Ressel, Rezension von/compte rendu de: Maud Harivel, Les élections politiques dans la République de Venise (XVIe–XVIIIe siècle). Entre justice distributive et corruption, Paris (Éditions Les Indes savantes) 2019, 374 p. (La Boutique de l’Histoire), ISBN 978-2-84654-526-6, EUR 33,00., in: Francia-Recensio 2023/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.3.99901