Das Büchlein stellt uns einen Schuhmacher, Pfarrer und Publizisten des 16. Jahrhunderts vor. Sein windungsreicher Lebenslauf kann geradezu exemplarisch aufzeigen, dass das, was die Forschung abstrakt »Konfessionalisierung« nennt, in den Jahrzehnten um 1600 das individuelle Schicksal vieler Menschen zutiefst beeinflusst hat. Der Burgunder Jean de Léry zog Calvins wegen als Achtzehnjähriger nach Genf. Vier Jahre später, 1556, reiste er mit 13 weiteren Calvinisten nach Brasilien. Das Grüppchen sollte eine kleine französische Kolonie namens »Fort Coligny« verstärken, die kurz zuvor Nicolas Durand de Villegagnon auf einer (heutzutage nach ihm benannten) Insel in der Bucht von Guanabara (beim heutigen Rio de Janeiro) gegründet hatte. Vor allem wegen ihres Abendmahlsverständnisses überwarfen sich Léry und seine Reisegefährten mit den anderen Kolonisten, schließlich verließen erstere die Insel, »qui n’est décidément pas ce refuge propice à l’Évangile dont ils rêvaient« (S. 38). Sie lebten nun vier Monate lang auf dem Festland unter den Einheimischen, ehe einige von ihnen (darunter Léry) die Gelegenheit nutzten, nach Europa zurück zu segeln. Fünf Glaubensgenossen Lérys kehrten nach Fort Coligny zurück; weil sich drei von ihnen weigerten, ihrem Glauben abzuschwören, ließ sie Villegagnon ertränken. Léry wurde Pfarrer; als die Bartholomäusnacht die Seine rot einfärbte, predigte er in La Charité-sur-Loire. In dem Städtchen wurden »une vingtaine de protestants« massakriert (S. 51), die Häscher suchten auch nach Léry, der mit knapper Not entkam und ins befestigte Sancerre flüchtete. Dort durchlitt er die langwierige Belagerung durch katholische Truppen bis zur Kapitulation der völlig ausgehungerten Stadt im August 1573. Die traumatisierenden Erlebnisse schilderte er in seiner »Histoire mémorable de la ville de Sancerre«. Dass er fünf Jahre später seine alten brasilianischen Reisenotizen überarbeitete und als »Histoire d’un voyage faict en la Terre du Brésil« in die Druckerei trug, wurde von der publizistischen Behauptung des katholischen Kurzzeitkolonisten André Thevet veranlasst, die calvinistischen unter den damaligen Kolonisten seien für das Scheitern der kurzlebigen Kolonie »Fort Coligny«, die 1560 von Portugiesen dem Erdboden gleichgemacht worden war, verantwortlich.

Wir lernen also einen für die Verwerfungen und Konflikte des konfessionellen Zeitalters aufschlussreichen Lebenslauf kennen. Man kann Lérys Publikationen auch einer Geschichte des Kannibalismus einschreiben, denn sowohl bei den brasilianischen Tupinambá als auch im ausgehungerten Sancerre will der Autor ihn beobachtet haben. Man könnte die Brasilien-Schrift im Kontext theologischer (Bartolomé de Las Casas) und völkerrechtlicher (Francisco de Vitoria) Debatten über Rechte und Pflichten der Kolonisten würdigen, würde dann konstatieren, dass auch ein so unvoreingenommener, tendenziell wohlmeinender Beobachter wie Léry keinerlei Zweifel daran hegte, dass man die Einheimischen missionieren dürfe und sollte. In manchen Zügen präsentiert uns der zivilisationskritische Beobachter Léry den »Edlen Wilden«. Zur Religiosität (die er gar nicht als solche erkannte) der Tupinambá fand er, jedenfalls nach Ansicht des Rezensenten, keinen Zugang, aber seine Aufzeichnungen sind voll des Lobes über den Alltag in den Dörfern. Lestringant resümiert: »Pour la vie de tous les jours, les Tupinamba sont infiniment préférables aux Français« (S. 36). Die Tupinambá seien, so Léry, reinlicher als die Franzosen, fräßen sich keine dicken Bäuche an, und ihre Hängematten seien europäischen Betten weit vorzuziehen. Frankreichs Katholiken hätten sich in den Hugenottenkriegen als erheblich grausamer erwiesen denn Brasiliens Kannibalen. Wie beim zivilisationskritischen Romancier Johann Gottfried Schnabel dienen die Überseeerfahrungen des Zivilisationskritikers Léry als Kontrastfolie zur verderbten Heimat, aber positives Pendant zu Schnabels »Insel Felsenburg« ist nicht die Villegagnon-Insel, es sind die Urwalddörfer der Tupinambá. Lérys detaillierte, oft schwärmerische Naturschilderungen könnte man in eine Fluchtlinie zu Saint-Pierre und Chateaubriand stellen.

Frank Lestringant trug zusammen, was sich an Lebensspuren ausmachen lässt, er bietet, wiewohl nicht strikt chronologisch voranschreitend, insgesamt doch ein »Lebensbild«. Bezüge zu wichtigen frühneuzeitlichen Entwicklungen – von der Prägekraft der Konfessionalisierung bis hin zur Geschichte der Naturwahrnehmung – drängen sich dem Leser geradezu auf, auch dann, wenn sie Lestringant lediglich streift oder gar nicht registriert. Den Autor selbst fasziniert Léry als Pionier der Ethnologie – nicht Chateaubriand oder Rousseau, sondern Claude Lévi-Strauss (Lestringant weist darauf hin, dass er im Guanabara-Kapitel seiner »Traurigen Tropen« bemerkte: »J´ai dans ma poche Jean de Léry, bréviaire de l´ethnologue«) ist der Fluchtpunkt. Léry sei »le premier ethnologue digne de ce nom« (S. 121). Diese Einschätzung Lestringants beruht nicht auf der (den Rezensenten frappierenden) offenen, neugierigen Welthaltung Lérys, die dem lokalen Augenschein ohne Rücksichten auf überlieferte Wissensbestände, auf antike oder biblische Autoritäten den Vorrang gab. Lestringant ist wichtiger, dass Léry besonders in den stark anwachsenden Neuauflagen der »Histoire d’un voyage« systematisch vergleicht: »Chez Léry il y a la volonté d’écrire une histoire comparative et d’explorer les mœurs de tous les peuples auxquels il peut avoir accès par ses lectures« (S. 12f.).

Man merkt dem Büchlein an, dass sich sein Autor seit Jahrzehnten mit Léry beschäftigt, der Text ist eher essayistisch als geduldig hinführend, Proseminarstudenten waren beim Verfassen des Textes nicht im Visier. Dabei lässt Lestringant nichts auf seinen Helden kommen. Lérys Widerpart in Brasilien, Villegagnon, ist »très autoritaire«, »un chef tyrannique« (S. 28). Am publizistischen Gegenspieler in Frankreich, André Thevet, lässt Lestringant ebenfalls kein gutes Haar. Während Léry »une étude systématique des sociétés dans l’ensemble de leurs manifestations linguistiques, coutumières, politiques, religieuses [wie Lestringant findet] et économiques« (S. 12) vorgelegt habe, gelte für die stümperhaften Bücher Thevets: »Tout est mélangé, la nature, la culture, la géographie, les plantes, les animaux, les hommes. L’ensemble est livré dans le plus grand désordre«. Thevets Schwadronagen ließen »aucune partie du monde [...] à l’abri de leurs errances« (S. 72). Triumphierend hält Lestringant fest, dass Thevet für seine »folles attaques« (S. 70) auf Léry teuer bezahlen musste, denn: Léry »triomphe sur toute la ligne« (S. 67). Das Büchlein ist so spannend wie der Lebenslauf Lérys und durchaus unterhaltsam zu lesen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Axel Gotthard, Rezension von/compte rendu de: Frank Lestringant, Jean de Léry, le premier ethnologue, Rennes (Presses universitaires de Rennes) 2023, 134 p. (Épures), ISBN 978-2-7535-8983-4, EUR 9,90., in: Francia-Recensio 2023/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.3.99907