Biografien zu Ludwig XIV. neigen zur Kulturhistorie, da sie sein Leben angesichts der unter seinem Zepter aufblühenden Kunst und Wissenschaft erzählen. Bereits Voltaires »Le Siècle de Louis Quatorze« (1751) beschreibt Ludwigs Regierung anhand der Kultur seiner Zeit. Doch nicht einmal Voltaire ist Urheber dieser kulturhistorischen Tendenz, sondern Ludwig selbst. Denn ein Charakterzug seiner Herrschaft ist die kulturelle Selbstinszenierung. Diese ist einer der vier Bereiche von Mansels Studie.
Unter Ludwig entfalteten sich Musik, Theater, Literatur, Plastik, Architektur, Malerei und Religiosität, was dieser Epoche den Namen Grand Siècle gegeben hat. Ludwig förderte nicht nur immens, sondern dirigierte seine Kunst und Wissen produzierenden Klienten oft selbst. Auch tanzte er schon früh öffentlich Musiktheater. Es half dem von der Fronde bedrohten Jüngling, seine königliche Würde zu entfalten. Ludwig engagierte sich enorm für die Musik. Das Kulturprogramm war royale Selbstinszenierung: Die Kunst wurde dem Volk zugänglich gemacht, in Theater- und Opernvorstellungen, Paraden, Gärten, Galerien; beim lever und coucher konnte man den König lebensecht bestaunen, beim petit coucher sogar beim Toilettengang (hier vermutlich nur für einen illustren Kreis). Wie die französische Sprache wurde diese Selbstinszenierung inklusive der Allonge-Perücke exportiert. Dass die Förderung von Kunst und Wissenschaft für Ludwig aber auch Zweck an sich war, zeigt seine Vorliebe für unabhängige Geister. Durch das osmanische Bündnis, die Diplomatie in Asien und Afrika sowie die Kolonialisierung Amerikas erschlossen sich Frankreich andere Kulturen, jedoch im Schatten von Demütigung, Landraub und Sklaverei (S. 18f., 34f., 72, 80, 88–90, 116, 135f., 145f., 158f., 195, 201f., 204, 211, 214, 238, 245–249, 350–352, 369–371, 373–378, 383–386, 388f., 394–396, 398, 403, 406f., 423f., 428, 430–437, 439, 441, 443f., 454f., 526, 651, 680, 703–706).
Der zweite Bereich vertieft den ersten: Die kulturelle Entfaltung war die Inszenierung des royalen Selbstverständnisses, das geprägt war von einer tiefen Frömmigkeit, die das Königtum als von Gott eingesetzte soziopolitische Legitimität verstand. Dies trug Ludwig nicht nur Privilegien, sondern auch Pflichten an: So unterstützte er die Stuarts aufgrund monarchischer Solidarität wider die Staatsraison, hatte einen weitreichenden Familiensinn, begegnete Untertanen am Hof beherrscht, ja gar galant, und verstand sich als Hirte seines Volkes, der u. a. an Skrofeln Erkrankte durch Handauflegen heilte und auf dem Sterbebett zwischen der Kurzlebigkeit seiner selbst und der Beständigkeit seines Volkes unterscheiden konnte. Der Absolutismus war eine Komplexität, bei der Ludwig nicht immer an der Spitze der Hierarchie stand. Seine Regierung stützte sich auf fähige Staatsmenschen; selbstbewusste Prediger wie Bossuet konnten ihm Vorschriften machen (S. 34f., 43, 84, 108, 149, 174, 200, 215f., 238, 246–249, 279, 298–301, 403–407, 577, 648–650).
Die damit zusammenhängende von Ludwig veranlasste und betriebene Verfolgung der hugenottischen Bevölkerung bildet Mansels Hauptbereich. Er sieht drei Motive für die Revokation des Ediktes von Nantes: Das Hauptmotiv resultiert aus Ludwigs Bündnis mit dem Osmanischen Reich gegen Habsburg; ein Bündnis, das ihm scharfe Kritik des christlichen Europas eingehandelt hatte. Nach seinem Sieg über die osmanische Armee in Mittel- und Osteuropa wurde Leopold I. als Held des Christentums gefeiert. Durch die Bekämpfung der hugenottischen Konfession wollte auch Ludwig seinen Katholizismus demonstrieren. Zweitens machte der französische Klerus, der die hugenottische, oft gebildete, wohlhabende und einflussreiche Bevölkerung als Bedrohung empfand, Druck auf Ludwig, der wiederum vom Klerus abhing, da dieser seine Interessen im Vatikan vertrat. Und drittens sah es Ludwig als seine monarchisch-religiöse Pflicht an, Rechtgläubigkeit herzustellen. Mansel schildert die Grausamkeit der Verfolgung – Nötigung, Folter, Mord sowie zynisches Runterspielen dieser Gräuel seitens der Regierung – und sieht darin Ludwigs Kapitalfehler: Die hugenottische Bevölkerung war ihm, auch während der Fronde, treu ergeben gewesen, da sie sich in der Monarchie Schutz erhoffte. Nun machte sich Ludwig diese Bevölkerung zur Feindin. Wiewohl ihr nach der Revokation die Ausreise verboten wurde (es blieb nur die Zwangskonversion), gelang einer großen Menge die Flucht, was Frankreich militärisch und ökonomisch schwächte. Denn es floh nicht nur die »Quantität«, sondern auch die militärische, politische und wirtschaftliche »Qualität«, die ihre Fähigkeiten nun in den Dienst frankreichfeindlicher Länder stellte. Die religiöse Verfolgung, die auch den Jansenismus traf, war mit ein Grund für die französische Religionsfeindlichkeit des 18. Jh.: ein entgegengesetztes Resultat als das von Ludwig intendierte (S. 10, 80, 84, 117, 160, 277, 296, 298–301, 312, 381, 413, 439, 460–479, 481, 483–488, 490–493, 501–503, 519–521, 527, 531, 540–542, 544f., 570, 577, 587–589, 610, 634, 654–656, 658, 680, 684f., 693f., 698f.).
Der vierte Bereich vertieft die Kritik. Ludwigs monarchisches Selbstverständnis war ein adeliges, das sich im Krieg demonstrierte: Größe durch Kraft, Kraft durch Kampf. So waren Ludwigs Kriege, die einen Großteil seiner Regierungszeit ausmachen, oft Selbstzweck. Dabei verordnete oder billigte er eine massive Brutalität gegen Soldaten und Zivilbevölkerung, was die Koalition gegen ihn stärkte. Das durch Krieg und Repression verursachte Leid zeigt das eigentliche Versagen seiner Herrschaft. Im Spanischen Erbfolgekrieg kam es zusätzlich zu Ernteausfällen infolge der Kleinen Eiszeit, worauf viele an Hunger starben. Mansel verweist auf weitere Gräuel: die Verbrennungen von Homosexuellen, die etlichen Toten unter den Arbeitern für die Prunkbauten und die brutale Reaktion auf Dissidenz, wobei es der Hof nicht so sittenstreng mit sich selbst hielt. Wiewohl sich Ludwig konkreten Menschen und in konkreten Situationen gnädig zeigen konnte, wurden ihm ab 1670 Milde, Demut und Mäßigung abgesprochen. Ein Großteil trauerte nicht über sein Ableben. Kurz vor seinem Tod jedenfalls zeigte er Reue über seine Volksausbeutung und Kriegstreiberei. Den Hauptgrund für die Revolution sieht Mansel in der desaströsen finanziellen Lage, in die Ludwig sein Land auf vielen Wegen führte (S. 85, 137f.; 176, 222, 237, 250, 252, 258f., 267f., 283, 285–287, 301f., 304f., 314f., 317, 320f., 331, 335, 381–384, 399–402, 414–421, 452f., 501–503, 505f., 524–527, 534, 536, 540–542, 587–591, 610, 612f., 626, 645f., 658, 672, 680, 684f., 693–695, 705).
Das ist das Problem, mit dem Biografien zu Ludwig XIV. gerungen haben und ringen werden: auf der einen Seite die kulturelle Schönheit des Grand Siècle, auf der anderen das reale Leiden des siècle cruel. Natürlich stehen Ludwig und seine Zeit in beiden Aspekten nicht allein da. Eine der vielen Stärken dieser Studie ist ihr Bemühen um Fairness: Weder tuschiert sie die moralischen Fehler des Königs, noch isoliert sie diese von den historischen und anthropologischen Bedingtheiten, die über ihn hinausgehen. Mansel beendet sein Buch mit einer Beschreibung des heutigen Versailles, wo die Schönheit noch heute zur Musik Lullys erblüht (S. 703–706). Vielleicht möchte auch Ludwig dies als Fazit seiner Regierung sehen.
Das Buch brilliert in seinem stilistischen Spagat: Es arbeitet anekdotisch, doch stringent; es spricht in einfacher Sprache, doch von komplexen Zusammenhängen. Es lenkt uns in kleinen, quellennahen Abschnitten durch Ludwigs Leben und weitet unseren Blick mit vielen Spin-offs über andere Personen, Länder, Geschehen und Verhältnisse, sodass durch Ludwig die Epoche und durch die Epoche Ludwig erscheint.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Andreas Burri, Rezension von/compte rendu de: Philip Mansel, König der Welt. Das Leben von Ludwig XIV., Berlin (Propyläen Verlag) 2022, 944 S., ISBN 978-3-549-10023-3, EUR 59,00., in: Francia-Recensio 2023/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.3.99908