In der Forschung gilt mittlerweile als unumstritten, dass die mittelalterliche Kirche nicht grundsätzlich tanzfeindlich eingestellt war. Über Jahrhunderte existierten sowohl negative als auch positive Konnotationen von Tanz im Rückgriff auf biblische Texte, Schriften der Kirchenväter sowie kirchliche und weltliche Rechtsnormen, die ein bezeichnendes Licht auf die christliche Ambivalenz gegenüber der im Tanz sublimierten Körperlichkeit des Menschen werfen. Negative Assoziationen wie der unzüchtige, ekstatische Tanz der Salome, der nach links gedrehte Reigen als Zeichen der Teufelsanbetung oder moralische Exempel vermeintlicher Tanzsucht (Legende der Tänzer von Kölbigk) kollidieren mit dem Bild des biblischen Königs David, der zu Ehren Gottes vor der Bundeslade tanzt, oder dem himmlischen Reigen der Engel als Sinnbild der ewigen transzendentalen Verbundenheit mit Gott.

Hier setzt die Studie von Lynneth Miller Renberg über religiöse Tanzdiskurse im vormodernen England an. Miller Renberg verortet die Tanzdebatten über einen längeren Zeitraum im Kontext zentraler kirchlicher Reformprozesse des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit, ausgehend vom 4. Laterankonzil von 1215 über die Devotio moderna des 15. Jahrhunderts bis hin zur reformatorischen Bewegung des 16./17. Jahrhunderts. Trotz signifikanter Unterschiede hinsichtlich Schriftverständnis, Rechtfertigung, Sakrament und Ekklesiologie betont sie die Kontinuität und das allen Reformbemühungen gemeinsame Bestreben nach einer Erneuerung von Kirche und Glauben, wobei der Predigt als Instrument der Laienerziehung eine zentrale Bedeutung zukam.

Die mit der Suprematsakte des englischen Parlaments vom 3. November 1534 in Gang gesetzte anglikanische Reformation brachte in den nächsten hundert Jahren eine Fülle spezifischer Gesetze, Diözesan- und Gemeindestatuten, theologischer Traktate, Schriften und Predigttexte hervor, die zu einer fundamentalen Reorganisation des religiösen Lebens auf der Insel führten, von der rechten Lehre über die Laienbildung bis hin zu modernen Formen aktiv gelebter Frömmigkeit. Als gesellschaftliche Klammer fungierte dabei der ländlich geprägte Pfarrbezirk (parish), in dem sich das unter Kontrolle weltlicher und kirchlicher Obrigkeiten stehende Gemeindeleben kristallisierte. Insofern gilt die Reformation als Markstein einer längeren Entwicklung, die auch zu einer theologisch-moralischen Neubewertung des Tanzens in der Gesellschaft führte und in der Folge maßgeblichen Einfluss auf das alltägliche Leben der Menschen ausübte.

Miller Renberg untersucht in sechs Kapiteln auf der Basis umfangreichen Quellenmaterials, wie in der englischen Gesellschaft bislang weitgehend tolerierte kirchliche wie weltliche Tanzpraktiken unter dem Aspekt von Schuld und Sünde einer moralischen Prüfung und Wertung unterzogen werden. Dabei zeichnet sich eine zunehmend aggressive, misogyn geprägte Polemik ab, die zwar zum einen auf traditionelle Vorstellungen und Stigmatisierungen rekurriert, in ihrer Radikalität aber viel weiter geht: Prediger geißeln Frauen, die »unschicklich nach Art der Kamele tanzen« (»Paul’s Cross Sermon«, 1593), und vergleichen tanzende Männer, ihrer Männlichkeit beraubt, mit bedauernswerten Hermaphroditen (Francis Rollenson, »The Bridegromes Banquet«, 1611). Das Tanzen an Sonntagen gilt als Sakrileg und schwere Beleidigung Gottes (z. B. Heinrich Bullinger, »Of the Fourth Precept«, 1577). In und im Umkreis von Kirchen bzw. auf dem Kirchhof soll das Tanzen ganz verboten und sogar auf Hochzeiten nur noch unter strikten Auflagen erlaubt sein.

Auffallend ist dabei die unterschiedliche Wahrnehmung und moralische Bewertung männlichen und weiblichen Tanzverhaltens. Tanzende Frauen erscheinen in deutlicher Sexualisierung des weiblichen Körpers als Verkörperung der Sünde par excellence (»Satan Danced in the Person of the Damsel«, Kap. 4). Miller Renberg belegt dies vor allem anhand des gewandelten biblischen Narrativs der tanzenden Salome. Erfüllt Salome im Hinblick auf die weitverbreitete Verehrung des hl. Johannes des Täufers während des Mittelalters noch eine bestimmte exegetische Funktion, erscheint die biblische Figur in englischen Predigten und Pamphleten seit dem 16. Jahrhundert nur noch als Symbol der vom Teufel besessenen sündigen Frau und dient zur Begründung bzw. Rechtfertigung weitreichender gesellschaftlicher Restriktionen, gipfelnd in der radikalen Forderung, dass Christen sich des Tanzens ganz enthalten sollen (u. a. in John Lowin’s Pamphlet »Brief Conclusions of Dancers and Dancing«, 1609).

Miller Renberg zeigt ebenfalls, wie die theologische Debatte Einfluss auf die weltliche Rechtsprechung nimmt, die zunehmend moralische Begründungen als rechtliche Verbindlichkeit definiert. Bezeichnend ist der Fall von Nicholas Ruddock und Katheren Chauker, der 1617 im »Parish of St. John’s« in Glastonbury verhandelt wurde. Die Anklage gegen das unverheiratete Paar lautete auf Unzucht, wobei nach der Argumentation des Gerichts die Zeugung eines unehelichen Kindes auf die Missachtung des sonntäglichen Tanzverbots zurückzuführen sei (their lewdnes in begetting the said base childe vppon the sabboth day coming from danceing; Quarter Sessions Roll, SRO, Q/SR 27, pt. 1, fol. 79).

Die Stärke von Miller Renbergs Untersuchung liegt vor allem in der Erschließung aussagekräftiger Quellen zu moraltheologischen Diskursen im Kontext der anglikanischen Reformation. Miller Renberg kann in der Analyse von Tanznarrativen den religiös determinierten mentalen Wandel in der englischen Gesellschaft überzeugend dar- und belegen, wobei die frühneuzeitliche Tanzdebatte in England durch den Puritanismus ohne Zweifel nochmal eine spezifische Prägung erfährt. Die mit der Stigmatisierung einhergehende Profanisierung des Tanzes, die Miller Renberg im letzten Kapitel anhand von Predigttexten des 16./17. Jahrhunderts minutiös nachverfolgt (»Performing Dance, Sin and Gender«, Kap. 6), ist dabei eine der gravierendsten, bis heute nachwirkenden Folgen.

Ein biografisches Verzeichnis von Autoren frühneuzeitlicher englischer Predigten (Appendix), eine selektive Zeitleiste zur englischen Kirchengeschichte unter besonderer Berücksichtigung richtungsweisender Schriften, eine umfangreiche Bibliografie mit Quellenverzeichnis sowie ein Sach- und Personenregister runden die gelungene Studie ab.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Valeska Koal, Rezension von/compte rendu de: Lynneth Miller Renberg, Women, Dance and Parish Religion in England, 1300–1640. Negotiating the Steps of Faith, Woodbridge (The Boydell Press) 2022, 268 p. (Gender in the Middle Ages, 19), ISBN 978-1-78327-747-6, GBP 60,00., in: Francia-Recensio 2023/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.3.99909