Der von Martin Mulsow herausgegebene Sammelband »Das Haar als Argument« thematisiert historische Haartrachten mit der im Untertitel benannten Wissensgeschichte in methodisch überraschender Weise: Es geht in den hier versammelten Texten nicht nur um die Frage, wie bestimmte Frisuren, Barttrachten und Perücken einst getragen wurden; derartige Themenstellungen wurden in jüngerer Zeit in kulturgeschichtlichen, wesentlich von neuen Perspektiven auf die materielle Kultur angeregten Publikationen bereits behandelt. Auch und vor allem verfolgt der vorliegende Band die Frage, wie sich Wissen um die Art und Weise, das Haar zu tragen, formierte und in welchen Zusammenhängen dieses Wissen relevant wurde. Der implizit vorgegebene Zeitrahmen liegt in der Frühen Neuzeit – der Band ist in der Reihe »Gothaer Studien zur Frühen Neuzeit« erschienen –, wird aber eher als Vormoderne aufgefasst: zwei Beiträge behandeln das Mittelalter, zwei andere spielen ihre Argumentation über die Bande des 19. Jahrhunderts. Nicht nur diese zeitliche, auch die räumliche Erstreckung der behandelten Themen lassen die Fragestellung als einigermaßen universal erscheinen: So behandelt ein Beitrag menschliches Haar als (ominöses) medizinisches Mittel im islamisch geprägten Kulturraum, ein anderer die differenzierten Bedeutungen des Zopftragens in China.

Der Band gliedert sich in vier thematische Sektionen, die in sich chronologisch angelegt sind. Die erste trägt den Titel »Haarwissen und Medizin« und beginnt mit einem Beitrag von Carine van Rhijn, die eine Randnotiz aus einem pastoralen Kompendium des 9. Jahrhunderts vorstellt: Als Mittel für wallendes Haar wird hier eine Mixtur beschrieben, die in antiken Quellen eigentlich gegen Haarausfall angeführt wurde. Natalie Bachour stellt im anschließenden Beitrag die erwähnte Verwendung menschlichen Haars in medizinischen, alchemistischen und magischen Abhandlungen der islamischen Welt in Mittelalter und Früher Neuzeit vor. Stefan Hanß nimmt die elegante Haar- und Bartinszenierung auf Porträts von Hans Holbein d. J. und Lucas Cranach d. Ä. zum Anlass, das Wissen über Haarpflege im 16. und 17. Jahrhundert und die mitunter bizarren Pflegehinweise zu beleuchten.

Die zweite Sektion behandelt das Thema »Rekonstruierte Haare in Kunst und Antiquarismus«. Dirk Jacob Jansen betrachtet darin, ausgehend von der forensischen Kennerschaft eines Giovanni Morelli, Haarformen und Haarfarben als Indizien zur Deutung von Bildinhalten, wobei ein Akzent auf dem roten Schimmer blonder Haare bei Tizian liegt. Martin Mulsow geht in seinem Beitrag der Frage nach, wie vermeintliches Wissen über historische Barttrachten in der Numismatik des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts verhandelt wurde und führt über die Bildnisse auf Münzen hinaus mit Balthasar Permoser einen renommierten Künstler der Zeit an, der seinen Vollbart durchaus streitbar gegen barocke Moden zu verteidigen wusste. Weg vom menschlichen Haar führt dann der Beitrag von Julia Saviello, die eine Reihe von Flugblättern des 16. und 17. Jahrhunderts über das vermeintliche Wunder »bärtiger« Trauben vorstellt; tatsächlich waren diese Früchte von einem Parasiten befallen, ihre bildliche Darstellung wirft allerdings Fragen nach der Visualisierung des Haars in der zeitgenössischen Kunsttheorie auf.

Die dritte Sektion behandelt »Religiöse Kämpfe, Decorum und Politik«. Auch hier wird der Bogen bis ins Mittelalter gespannt: Irene van Renswoude untersucht die gesellschaftliche Einstellung zur Kahlköpfigkeit im westeuropäischen Frühmittelalter. Herzstück ihres Beitrags ist ein ursprünglich wohl auf Karl den Kahlen gemünztes Lobgedicht des späten 9. Jahrhunderts, das die Glatze preist, vielleicht aber nicht ganz frei von Ironie zu verstehen war. Dirk van Miert stellt zwei Positionen in einer heftigen Debatte dar, die sich in den Niederlanden des mittleren 17. Jahrhunderts um die Frage entzündet hatte, ob Männer langes Haar tragen sollten oder ob dies im Widerspruch zur Bibel stünde. Dabei meiden sowohl der Humanist Hadrianus Junius als auch der Leidener Professor Marcus Zuerius Boxhorn biblische Referenzen, um in erster Linie philologisch und antiquarisch zu argumentieren und ein Reglement der Haarmode tendenziell abzulehnen. Einen ähnlichen Streit, der sich zeitgleich in England zutrug, untersucht Kai Merten. Sein Beitrag gibt einen Einblick in die politisch-religiösen Debatten zur Zeit der Englischen Revolution, in der die Anhänger der parlamentarischen Partei das Haar kurz geschoren trugen, die Royalisten ihres hingegen lang. Anhänger beider Lager bespöttelten in Pamphleten indes die Haarmoden des jeweiligen politischen Gegners. Lucinda Martin zeigt auf, wie Haar- und Barttracht in Querelen des Pietismus um 1800 aus dem Bereich der Adiaphora gezerrt wurden, also jener Fragen, die der Hl. Schrift zufolge weder für gut befunden noch abgelehnt werden, und zum Gegenstand von Fragen der gesellschaftlichen Disziplinierung erhoben wurden.

Die vierte Sektion behandelt schließlich »Herrschaftsordnungen und Fremdwahrnehmungen«. Anhand zahlreicher Beispiele aus der Reiseliteratur entwirft hier zunächst Alexander Schunka ein Panorama der frühneuzeitlichen Mobilität, die von Anpassungen an regionale Gepflogenheiten über entehrende Praktiken bis zur Verunklärung von Identitäten Haarfragen in der Fremdwahrnehmung vorstellen. Ines Eben v. Racknitz verdeutlicht in ihrem Beitrag, dass das Zopftragen im China der Qing-Zeit (1644–1911) nicht nur aus der Außenperspektive europäischer Chinareisender des 19. und frühen 20. Jahrhunderts als signifikant für das Reich sowohl in positiven als auch negativen Wertungen angesehen wurde, sondern auch in China selbst eine wechselhafte Bewertung sozialer und kultureller Zugehörigkeit erfahren hatte. Kristina Kandler interpretiert Beiträge über überwiegend weibliche Haartrachten im Gothaischen Hofkalender, einem populären Medium im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, das unter der Annahme einer universellen Koketterie ausufernde Frisurentrends vorstellte und damit zur Zirkulation von Moden beitrug.

Der Herausgeber erwähnt den Enthusiasmus, mit dem die Fragestellung von Beginn an diskutiert wurde. Den versammelten Beiträgen ist diese Freude am Thema anzumerken, sodass die Lektüre durchweg nicht nur aufschlussreich ist, sondern auch Vergnügen bereitet. Weiterführende Fragen stellen sich dabei fast von selbst: Wie steht es etwa um den wiederholt am Rande vermerkten Tiervergleich und um die Physiognomik, wie um die berühmten Fälle von Hypertrichose usw. Dass sich eine Fortsetzung des Bandes vorstellen ließe, ist keineswegs als Defizit zu verstehen, sondern als Beleg für die Attraktivität einer Themenstellung, deren Vielfalt und interdisziplinäre Anschlussfähigkeit der vorliegende Band sehr überzeugend vorführt.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Robert Bauernfeind, Rezension von/compte rendu de: Martin Mulsow (Hg.), Das Haar als Argument. Zur Wissensgeschichte von Bärten, Frisuren und Perücken, Stuttgart (Franz Steiner Verlag) 2022, 285 S. (Gothaer Forschungen zur Frühen Neuzeit, 21), ISBN 978-3-515-11660-2, EUR 60,00., in: Francia-Recensio 2023/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.3.99910