I. »Les cartes de Chartreuse«, es handelt sich um 79 großformatige Bilder (150x220 cm), wurden in den Jahren 1999–2022 restauriert. Die Restaurierung, zu der ein umfassender Bericht vorliegt (»Restauration des Cartes de Chartreuse«, 2021)1, wurde durch die Association pour la Restauration des Cartes de Chartreuse, unter Leitung von Pierrette Paravy, Daniel Le Blévec und Giovanni Leoncini, begleitet.
Zahlreiche historische und kunsthistorische Studien entstanden bereits im zeitlichen Umfeld der Restaurierung und werden wohl auch noch folgen. Der hier vorzustellende Bildband bietet die Möglichkeit, in der Versammlung der hervorragenden Abbildungen die von den Urhebern des Zyklus intendierte Wahrnehmung des »Raums« der Kartausen – den Raum, den jede Kartause im spezifischen Umfeld einnimmt – wahrzunehmen.
II. Die Initiative für die Anfertigung der Bilder erfolgte in der Zeit von Dom Innocent Le Masson, der die Bilder in der Galerie des Cartes vereint sehen wollte. Die Bilder selbst entstanden Ende des 17., sehr viele im Laufe des 18. Jahrhunderts und einzelne im 19. Jahrhundert. Fotos des Kapitelsaals aus dem ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zeigen die Bilder im Kapitelsaal mit den Prioren-Bildern. Heute befinden sich die Prioren-Bilder wieder im Kapitelsaal, die restaurierten Bilder in der Galerie des Cartes des Musée de la Grande Chartreuse in Saint-Pierre-de-Chartreuse.
Die Selbstdarstellung in großformatigen Bildern der einzelnen Kartausen, von welchen heute 79 erhalten sind, scheint im ersten Moment dem Wesen des Kartäusischen Mönchtums zu widersprechen. Die Darstellung des Ordens als Summe der Kartausen, die in der Grande Chartreuse versammelt sind, entspricht aber dem Prinzip des Kartäuserordens. Die Bilder drücken genau das aus, was nicht nur zur Zeit ihrer Entstehung als grundlegender Gedanke hinter dem Auftrag zur Anfertigung der Gemälde stand; sie repräsentieren im Bild der einzelnen Kartausen Raum und Präsenz der Klöster und markieren den Aktionsradius des Ordens, der ordensintern ja nicht zuletzt durch Generalkapitel und Visitationswesen eine besondere Verdichtung erfährt.
III. Dom Innocent Le Masson bewies sich nach dem verheerenden Brand von 1676 als ein Reorganisator; er startete eine »Nouvelle Édition des Statuts«, sorgte für die Errichtung einer Druckerpresse und reorganisierte im Hinblick auf die Verwaltung und die Rechtssicherung das Archiv der Kartause, indem er aus den Klöstern Kopien relevanter Urkunden anforderte: »Dom Le Masson donne quelques chiffres sur l’état de l’ordre à la fin – gouvernement de son Ordre, reconstruction de la Grande Chartreuse« so lesen wir es in der Geschichte der Grande Chartreuse2.
Ein zeitgenössischer Kupferstich3 zeigt ihn als Autor. Im vor ihm liegenden Buch schreibt er das »Directorium«, gleichzeitig weist er mit der linken Hand auf das Kreuz und in die Richtung der im Regal stehenden Annalen (Innocent, Le Masson, Annales Ordinis Cartusiensis. 1: Tomus Primus, Correriae, 1687). In der »Littera Introductoria« (dort fol. 1r–fol. 2v) stellt Dom Le Masson sein Konzept vor; Band I befasst sich mit den Statuten, Band II »Agetur de fundatoribus domorum« sollte über die Errichtung der einzelnen Häuser berichten und Band III »De gestis Patrum ordinis« sollte schließlich herausragende Persönlichkeiten des Ordens behandeln. Dieses Konzept fügt sich in die Zeit des Sammelns, Ordnens und Analysierens ein, wie es sich im Briefwechsel Dom Innocents de Masson, vor allem auch in Charles Le Couteulx’4 mit Mabillon und Martène Durand, bestätigt.
Jean Mabillon weist in der »Voyage litteraire« (S. 251) auf die Einzigartigkeit der Architektur (wie sie sich in allen 79 Bildern auch bestätigt) und hält gleichzeitig fest, dass nichts der [geforderten] Einfachheit widerspricht (S. 251–252) »… Elle (La maison) est belle; ma elle n’a rien de trop magnifique, ni qui blesse la simplicité religieuse«. Er spricht sozusagen im Sinne Massons. Mabillon verweist auf die Landkarte, auf welcher beinahe alle Kartausen verzeichnet sind (»dans … le corridor on voit le plan de la plûpart des Chartreuses de l’ordre«; »Voyage«, S. 251).
IV. Der Präsentation der einzelnen Bilder sind einleitende Aufsätze vorangestellt: Pierette Paravy, »L’ordre Cartusien au temps des Réformes« (S. 11–29), kontextualisiert die Initiative des Dom Innocent Le Masson und bettet diese wiederum in den Handlungsspielraum der Zeitgenossen und der Nachfolger im Orden ein, ohne deren Engagement das ambitionierte Projekt nicht fortgeführt worden wäre. Der architekturhistorische Beitrag von Daniel Le Blévec und Giovanni Leoncini, »L’apport des cartes à la connaissance de l’universe cartusien« (S. 30–59) erläutert das nötige Zusammenspiel zwischen Stifter, Topografie und Realisierung einer Stiftung. Fraglos ist das individuelle Kloster Antwort auf die Kartäuserarchitektur in ihrer Einzigartigkeit des Grundrisses, gleichzeitig immer auch Antwort auf die topografische Situation und den Stil der Zeit. Mutatis mutandis wird jedes Kloster in das Ambiente gestellt, in welchem es durch Stifter und Gründer gestellt und finanziert wurde. Eine zweite Zeitebene ist im Kontext der Bilder zu beachten; es ist die Zeit der tatsächlichen Herstellung des individuellen Bildes, die Qualität des Malers zu berücksichtigen, wodurch das Bild uns die Kartause in ihrem Umfeld zeigt und den Betrachter in die Welt der Kartause führt.
Die Bilder, von unterschiedlicher Qualität, thematisieren u. a. im Detail Wasserversorgung und Wegenetze, die wesentliche Elemente der Interaktion darstellen. So etwa in der Darstellung von »Le Parc« (S. 188–189, datiert Bild mit 1770). Die Landschaft – Felder, Wiesen, Wasser – wird hier sehr flächig angedeutet. Markant sticht der Weg zwischen der Kartause und der Stadt heraus; hier verdeutlichen, auf einer breiten Straße, – angedeutete – Fuhrwerke und Personen die Interaktion zwischen Kartause und Umgebung. Manche Bilder zeigen die Begegnungszonen vor der Pforte (Valbonne, S. 90–91): Männer, Frauen und Kinder. Zur Kartause kommen aus der Umgebung Arbeiter, die durch einen Bruder bei der Arbeit beaufsichtigt (»Weinernte in Sélignac«, S. 118–119) dargestellt werden. Gerade in diesen Details (Kleidung, Fuhrwerke, Arbeitsprozesse) wird die Gegenwart, in der ein Bild gemalt wurde, sichtbar. Besonders markant ist mitunter die Präsenz der Technik in den Bildern; so etwa im Bild zur Kartause Le Gard (S. 172–173). Hier fährt die Eisenbahn, eine Dampflokomotive mit (bereits geschlossenen) Personenwaggons, in die vor den Mauern der Kartause liegende Bahnstation ein. In Montreuil wird sogar in der Beschriftung der Tafel selbst auf eine Machina igne mota ad aquam hauriendam (Bild Nr. 29, S. 170–171) hingewiesen. Dom Le Masson hat bereits in der Verteidigungsschrift gegen den Trappisten Armand Le Bouthillier den Standpunkt vertreten, dass moderate Anpassung erlaubt ist. »S’il se trouve dans nos statuts d’à présent quelque chose diffèrent de nos anciens statuts, la meilleure partie de ce qui y changé est convertie de bien en mieux; et l’autre plus petite partie a été proportionnée à la qualité des temps et des ordres« (»Explication«, S. 203).
In der mitunter detailreich erfassten Interaktion mit dem Umfeld, wird der Handlungsspielraum einer Kartause sowie der Einfluss der Kartäuser auf die Umgebung und die Reichweite des Ordens markiert. Die Bilder zeigen die Häuser, Orte und Landschaften in welchen die Kartäuser leben, durch ihren Grundbesitz und dessen Verwaltung präsent sind und in letzter Konsequenz auch die Umgebung verändern.
Auffassungen und Geschmack der Zeit spiegeln sich auch in den Beschriftungen, für die sehr oft eine leicht rechtsgeneigte Antiqua mit vereinzelt kursiven Elementen gewählt wird, die in Kartuschen oder diverse Architekturelemente integriert werden. Im Bild zu Villefranche-de-Rouergue (S. 149–151) zeigt der Schriftkünstler (ist er auch der Maler?) die Beherrschung der Hierarchie der Schriften. Für die Beschriftung selbst wählt er eine sorgfältig ausgeführte Capitalis monumentalis in Gold auf schwarzem Grund. Die annotationes befinden sich auf purpurgefärbtem Stoff in leicht rechtsgeneigter Antiqua.
V. Der Quellenwert der Bilder ist nicht in der Qualität der Ausführung, sondern vorrangig im Kontext der Ordensgeschichte zu sehen; dem aufmerksamen Betrachter werden sich u. a. aber auch Aspekte zur Geschichte der Arbeit, Mobilität und Verkehr, bis hin zur Technikgeschichte, um nur wenige der Aspekte hier zu nennen, erschließen.
Die einzelnen Abbildungen werden durch bewusst schlank gehaltene Texte erläutert. Ebenfalls knapp gehaltene Hinweise zu Quellen und vor allem zu weiterführender Literatur finden sich am Ende des Bandes. Hier sei jedem, der mehr erhofft hätte, in Erinnerung gerufen, dass Bibliografien immer dem dafür zur Verfügung stehenden Raum unterworfen sind und überdies im digitalen Zeitalter jeweils leicht ajouriert werden können.
In den Erläuterungen zu den einzelnen Abbildungen laden die Autorin und die Autoren anhand von Details nicht nur in das »universe cartusien« ein, sondern verweisen auf die Vielfalt dessen, was den espace cartusien (»espace sacré et profane«) zu einem besonderen macht.
Pierette Paravy verfasste 66 der insgesamt 79 Beiträge (Grande Chartreuse I und II, Le Reposoir, Val Sainte-Hugon, La Valsainte, Lyon, Beauregard, Dubon, Montrieux II, Bouvante, Prémol, Bonpas, Portes I, II, La Sylve Bénite, Meyriat, Vaucluse, Bonlieu, Sélignac, Montmerle, Salettes, Pierre-Châtel, Bosserville, Port-Sainte-Marie, Glandier, Sainte-Croix-en-Jarez, Vauclaire, Castres, Villefranche-de-Rouergue, Rodez, Toulouse, Le Puy, Mougères, Montauban, Le Mont-Dieu, Val Sainte-Pierre, Montreuil, Le Gard, Bourgfontaine, Bourbon-lez-Gaillon, Valdieu, Bellary, Le Parc, Auray, Orléans, Casotto, Pesio, Asti, Pavia, Chartreuse Royale de Turin à Collegno, Maggiano, Florence, Pontignano, Montello, Pise, Padoue, Ferrare, Vedana, Rome, Mauerbach, Gaming I und II, Tarkan, Buxheim, Ittingen, Mayence, Parkminster). Fünf Beiträge stammen von Daniel Le Blévec (Montrieux I, La Verne, Val de Christ, Valdemosse, Jerez), drei von Alain Girard (Valbonne, Villeneuve-lès-Avignon, Marseille), zwei von Régis Betrand (Montreux II, Aix-en-Provence). Je eine der Beschreibungen verfassten Laurent Borne (Cahors), Giovanni Leoncini (Padula) und Rinaldo Comba (Trisulti).
Der in hervorragender Qualität hergestellte Band führt in Räume und Lebenswirklichkeiten der Kartäuserinnen und Kartäuser und somit in die Welt der Kartausen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Meta Niederkorn, Rezension von/compte rendu de: Pierrette Paravy, Daniel Le Blévec (dir.), Les cartes de Chartreuse. Collection des toiles du monastère de la Grande-Chartreuse (XVIIe–XIXe siècles), Grenoble (Éditions Glénat) 2022, 288 p., ISBN 978-2-344-05365-2, EUR 45,00., in: Francia-Recensio 2023/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.3.99911