In der Medientheorie – wie in der Geschichtswissenschaft – schien das Radio im Vergleich zu den dominierenden Ansätzen, die sich insbesondere mit den visuellen (Massen-)Medien beschäftigten, lange Zeit unterrepräsentiert. Dass sich Philosophen jenseits von Rudolf Arnheim und Bertolt Brecht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch mit dem zu ihren Wirkungszeiten wichtigsten und verbreitetsten Massenmedium intensiv beschäftigten, wird erst seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts auch publizistisch gewürdigt – so zum Beispiel mit der Veröffentlichung der Arbeiten Theodor Adornos im Kontext des »Princeton Radio Research Projects« 2006. Der Philosoph und Medienhistoriker Philippe Baudouin unternahm mit seiner Arbeit über Walter Benjamin bereits 2009 die Aufgabe, die zentrale Rolle des Radios für einen weiteren wichtigen Philosophen der Moderne und Medientheoretiker aufzuzeigen. Die vorliegende Publikation ist die zweite, aktualisierte Auflage dieser wichtigen Arbeit.
Baudouins Analyse geht von Benjamins sechsjähriger Tätigkeit für den Weimarer Rundfunk aus. Zwischen 1927 und 1933 produzierte Benjamin rund neunzig Sendungen für die Sender in Frankfurt und Berlin (nicht zufällig die zwei Rundfunkanstalten, die für ihre den künstlerischen und literarischen Avantgarden zugeneigten und auch sonst experimentierfreudigen Intendanten bekannt waren). Dass dieses umfangreiche Werk wenig beachtet wurde, liege auch an Benjamins eigener Abwertung seiner Arbeit für das Radio in Briefen, in denen er sie als notwendiges Übel zur Existenzsicherung beschreibt. Baudouin lässt diese Einschätzung nicht gelten und zeigt, wie eng verflochten die »Lohnarbeit« für den Rundfunk mit den philosophischen Arbeiten Benjamins ist, insbesondere mit seinem Essay zum »Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in dem er das Medium nur in einer Fußnote erwähnt. Dabei ordnet er Benjamins Gedanken zum Radio in die breitere medienphilosophische Diskussion in der Weimarer Republik ein. In einem zweiten Schritt unterzieht er die Radiosendungen selbst (die leider nur in Form der Skripte erhalten sind) einer Analyse, um aus ihnen den Widerschein zentraler Themen des Benjamin’schen Werks herauszuarbeiten.
Die zentrale Problematik dreht sich dabei nach Baudouin um das »radiophonische Objekt« – das heißt, die einem Kunstwerk vergleichbare Größe im Medium Radio. Was macht ein Radiostück – ein Hörspiel zum Beispiel – aus: das Skript, der Ton, den der Hörer vor dem Apparat wahrnimmt, das Magnetband, auf dem die Sendung aufgenommen wurde, oder der kreative Geist des Produzenten? Für Baudouin ist das Kunstwerk im Radio irreduzibel auf einen dieser vier Aspekte, es verweise vielmehr auf eine »gemischte Ontologie«. Wie Fotografie und Film aber hebt das Radio die »Aura« des Originals auf und wird so zum Mittel der Politisierung der Kunst; wie im Kino besteht seine Attraktivität in der grundsätzlich kollektiven Rezeption, die es ermöglicht, eine größtmögliche Zahl zu erreichen.
Benjamin entwickelte in den wenigen Texten (meistens Textfragmenten) über das Radio ähnlich wie Bertolt Brecht eine Praxis, die die Trennung von Produktion und Rezeption, von Sprecher und Hörer aufheben soll (parallel zur Trennung von Autor/Künstler und Leser/Zuschauer, die Benjamin in anderen Texten unternimmt). Ebenso orientierte er sich auch in seinen Hörspielen und vor allem dem von ihm mitentwickelten Genre des »Hörmodells« an Brechts epischem Theater. Die Radiostücke animieren die Zuhörenden zum aktiven Mitmachen, sie thematisieren und reflektieren die eigene Medialität.
Auch andere Aspekte der Philosophie Benjamins sind beeinflusst von seiner Erfahrung im Radio. Baudouin leitet aus den geschichtsphilosophischen Thesen eine Rolle des Radios ab, die seinen Sprecher nicht zum »Propheten« macht, sondern zu demjenigen, der die Zukunft der in der gegenwärtigen Welt immanenten Katastrophe »übersetzt«. Umgekehrt thematisiere Benjamin in seinen Hörspielen für Kinder die Temporalität sowohl des Radios als auch der Geschichte selbst. Neben den geschichtsphilosophischen Thesen oder einzelnen Motiven wie dem der Katastrophe sieht Baudouin auch Benjamins kritischen Analysen zur Klassengesellschaft, zur Architektur in Berlin oder seine Überlegungen zu Narration und Erfahrung im Zuge des Verschwindens der oralen Praxis des Märchenerzählens gespiegelt in den Hörspielen und Vorträgen für Kinder, die er in Frankfurt und Berlin produzierte. Darin äußern sich auch seine Betonung der Kindheit und ihrer Relevanz für eine revolutionäre Praxis, die er auch in einem pädagogischen Programm im Theater umsetzte. Benjamins Anspruch war eine Radioproduktion, die den Alltag der Hörenden aufnahm und seine theoretischen Überlegungen ebenso wie generell gesellschaftskritische – vor allem marxistische – Konzepte darin verhandelte, ohne allzu didaktisch zu werden.
Baudouin gelingt überzeugend der Nachweis, dass den Arbeiten für den Weimarer Rundfunk ein zentraler Platz im Werk Walter Benjamins gehört, obwohl dieser sie im Briefwechsel mit Gershom Scholem wiederholt herunterspielte. Sie sind praktischer Ausdruck seiner Philosophie und der Versuch, diese für eine breite Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Gleichzeitig sind sie geprägt von Benjamins medientheoretischen Anspruch, die Tendenz moderner Massenmedien zur Entmystifizierung für eine politische Praxis zu nutzen, die er im Essay über die technische Reproduktion als »Politisierung der Ästhetik« der faschistischen »Ästhetisierung der Politik« gegenüberstellte. In seiner tiefen Analyse des philosophischen Werks Benjamins und der möglichen Relevanz seiner Arbeit für das Radio und seiner Nähe zu den Pionieren experimenteller, emanzipatorischer Radioarbeit wie Ernst Schön und Hans Flesch für Benjamins Philosophie kann Baudouin die enge Verbindung zwischen dem Radio als modernem Massenmedium und der Philosophie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachweisen.
Auch Baudouins zweiter Schritt, eng verbunden damit, ist ein wichtiger: nämlich ein ebenso dichtes Lesen der uns überlieferten Skripte der Radioarbeiten Benjamins, die aufzeigen, wie er seine Philosophie medienpraktisch umzusetzen und einer breiten Öffentlichkeit konkret nahebringen wollte. Allerdings verfällt Baudouin in diesem zweiten Teil in eine durchweg positive Betrachtung sowohl der Benjamin’schen Medientheorie als auch ihrer Umsetzung im Radio. Eine weitere Einordnung in den Kontext zeitgenössischer Medienphilosophie hätte hier helfen können; insbesondere Adornos Arbeiten zum Radio, die sich teils kritisch mit Benjamins Kunstwerk-Essay auseinandersetzen, fehlen hier. Auch Benjamins eigene Ambivalenz übergeht Baudouin und stellt Benjamin großenteils als Brechtianer dar, der – optimistischer und erfolgreicher als Brecht selbst – dessen Idee von der Umwandlung des Radios in einen Kommunikationsapparat umsetzte. Baudouins Betonung der phänomenologischen Aspekte der Benjamin’schen Medienphilosophie führt hier zu einer Vernachlässigung der sozialphilosophischen Aspekte. Dazu trägt bei, dass wir wenig über die Rezeption von Benjamins Radioproduktionen wissen.
Dennoch ist Baudouins Buch eine breitere Rezeption auch in Deutschland zu wünschen. Nicht nur zeigt er das Radio als zentrales Medium der Philosophie in der Weimarer Republik, sondern lässt auch das Werk Benjamins in neuem Licht erscheinen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Robert Heinze, Rezension von/compte rendu de: Philippe Baudouin, Walter Benjamin au micro. Un philosophe sur les ondes (1927–1933), Paris (Éditions de la Maison des sciences de l’homme) 2022, 288 p. (Bibliothèque allemande), ISBN 978-2-7351-2852-5, EUR 18,00., in: Francia-Recensio 2023/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.3.99977