Seit den späten 1960er-Jahren wird die Entwicklung des reichen und immer noch dynamischen Felds der Kulturgeschichte maßgeblich von der französischen Geschichtsschreibung mitbestimmt. Der vorliegende Band gibt einen Überblick zu wichtigen französischen Debatten und Impulsen sowie einen Einblick in mehr oder weniger aktuelle Forschungsthemen der französischen Kulturgeschichte.

Das 2020 erstmals erschienene und seit 2021 auch als Paperback erhältliche Werk wird von einem fünfköpfigen Team herausgegeben, das die im Jahr 2000 gegründete französische Association pour le développement de l’histoire culturelle (ADHC) repräsentiert. Es handelt sich um die geringfügig erweiterte Neuauflage einer bereits 2011 in französischer Sprache erschienenen Aufsatzsammlung1, die nun weitgehend unverändert in englischer Sprache in der Reihe der 2008 gegründeten Dachorganisation International Society for Cultural History (ISCH) erscheint. Der Band gliedert sich in vier systematische Hauptteile, die sich mit Definitionen und Grenzziehungen von Kulturgeschichte beschäftigen (1), ihre spezifischen Gegenstände in den Blick zu nehmen suchen (2), das für Kulturgeschichte scheinbar zentrale Feld von Erinnerung und Geschichte näher betrachten (3) und schließlich nach internationalen Transfers und Perspektiven fragen (4).

Nahezu alle Texte gehen auf Beiträge zu den Jahreskongressen der ADHC zurück, sind dementsprechend kurz, umfassen nur wenige Seiten und sind größtenteils thesenstark. Von den insgesamt 37 Beiträgen sind für die englischsprachige Ausgabe lediglich fünf neue Texte hinzugekommen. Während diese auf die Jahre 2011 bis 2016 zurückgehen, stammt ein Großteil der Texte also aus den frühen 2000er-Jahren. Neben dem knappen Geleitwort von Pascal Ory und einer »General Conclusion« von Jean-Yves Mollier fehlt leider eine genuine Einleitung, die vermutlich besser zur Einordnung des Bandes und zum Verständnis seiner Zielsetzungen hätte beitragen können.

Einerseits bietet die Textsammlung nun auch für eine englischsprachige Leserschaft ein weit gespanntes Panorama kulturgeschichtlicher Forschung in Frankreich und damit einen beeindruckenden Einblick in eine in der dortigen Forschungslandschaft traditionell starke geschichtswissenschaftliche Teildisziplin mit großer auch internationaler Strahlkraft. Insofern stehen die Beiträge jeweils für sich selbst, und es ist erfreulich, dass zahlreiche namhafte und für die Kulturgeschichte einflussreiche Autorinnen und Autoren unterschiedlicher Generationen versammelt werden konnten. Dass es sich größtenteils jedoch um ein bis zwei Jahrzehnte zurückliegende Beiträge handelt, die für die englische Ausgabe nicht überarbeitet wurden, bringt andererseits auch einige Schwierigkeiten mit sich. So sind manche Texte weniger gut gealtert als andere. Evelyne Cohens Beitrag über »Television and Mass Culture« etwa überzeugt zwar in sich, aus der Perspektive seines Entstehungsjahres 2010 kann er die seitdem stattgefundenen rasanten Entwicklungen im Medienbereich allerdings, verständlicherweise, nur knapp andeuten. Ähnliches gilt für den aus demselben Jahr stammenden Text Pascal Orys zu den Begriffen »Popular Culture« und »Mass Culture«, der im Ausblick neben Computern und Mobiltelefonen mit dem MP3-Player endet. Diesen wie manchen anderen Beiträgen hätte man mit einer Überarbeitung für die englische Ausgabe einen Gefallen getan.

Dennoch lassen sich die Mehrzahl der Beiträge wie auch der Band insgesamt gewinnbringend lesen, meines Erachtens insbesondere entlang zweier miteinander verschränkter Frageperspektiven: Erstens, inwiefern bietet die Aufsatzsammlung auch noch für kulturhistorisch interessierte und arbeitende Leserinnen und Leser der 2020er-Jahre Anregungen und Ansatzpunkte? Zweitens, inwiefern führen sie Lesenden mit historiografiegeschichtlichem Interesse die reiche Tradition kulturhistorischer Forschung in Frankreich vor Augen? Das Zweite dürfte meines Erachtens insgesamt besser gelingen als Ersteres. Besonders interessant sind so zum Beispiel Beiträge derjenigen Autorinnen und Autoren, die einerseits mit zeitlicher Distanz auf ihr eigenes Werk zurückblicken und davon ausgehend weiterführende Themen und Fragestellungen entwickeln, wie etwa Alain Corbins Plädoyer »For a History of the Sensitivity to the Weather« oder Arlette Farges Text, der mit einer Reflexion über den Umgang mit historischen Gerichtsakten und Archiven beginnt und mit Überlegungen zur Körpergeschichte endet. Dasselbe gilt für den in der englischen Ausgabe neu hinzugekommenen Text von Peter Burke über das Verhältnis von Sozial- und Kulturgeschichte.

Mit großem Interesse liest man zudem die Beiträge des vierten Abschnitts zu »Perspectives and Transfers«. Er rahmt die histoire culturelle à la française zum einen europäisch und fragt vor allem nach Transferprozessen zwischen Frankreich und Großbritannien. 2001 konstatiert Éric Neveu beispielsweise noch eine Einbahnstraße zwischen Paris und London, wurden doch die für die britische Diskussion so bedeutsamen Cultural Studies in Frankreich und insbesondere von dortigen Historikerinnen und Historikern lange Zeit kaum rezipiert. Zum anderen beschäftigen sich die Beiträge dieser Sektion mit der Bedeutung transnationaler, postkolonialer und globaler Herausforderungen für die Kulturgeschichte. Diese Perspektiven, die in den frühen 2000er-Jahren vielfach noch als Herausforderungen betrachtet wurden, werden inzwischen weitaus selbstverständlicher berücksichtigt – nicht nur in der Kulturgeschichte und auch Frankreich.

Insofern bietet der Band einen facettenreichen Rückblick auf mehrere Jahrzehnte kulturhistorischer Forschung und Debatten in Frankreich und lässt auch auf künftige Impulse und Perspektiven von dort in diesem weiterhin dynamische Forschungsfeld hoffen.

1 Évelyne Cohen, Pascale Goetschel, Laurent Martin, Pascal Ory (Hg.), Dix ans d’histoire culturelle, Paris 2011.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Silke Mende, Rezension von/compte rendu de: Evelyne Cohen, Anaïs Fléchet, Pascale Gœtschel, Laurent Martin, Pascal Ory (ed.), Cultural History in France. Local Debates, Global Perspectives. Transl. by Andrew Hill and Rosine Feferman, London, New York (Routledge) 2020, XI–332 p. (Studies for the International Society for Cultural History), ISBN 978-0-367-27187-9, GBP 36,99., in: Francia-Recensio 2023/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.3.99981