Karl Gutzkow (1811–1878) ist in Frankreich so gut wie unbekannt, und in Deutschland steht es nicht sehr viel besser, auch wenn sich seit nunmehr zwanzig Jahren eine Editorengruppe bemüht, eine digitale (meist auch gedruckt erscheinende) Gesamtausgabe seines Werks voranzutreiben (www.gutzkow.de). Dabei ist Gutzkow einer der erfolgreichsten Großautoren zwischen 1830 und 1870 und einer der ersten, der neben Schauspielen und Romanen konsequent und ununterbrochen Beiträge für die Kulturteile der Tagespresse liefert und zeitweilig selbst Presseorgane herausgibt: ein ungemein einflussreicher und in seinen (natürlich nicht unumstrittenen) Positionierungen im Kulturbetrieb einer der zentralen Kulturjournalisten des 19. Jahrhunderts, der erst ab etwa 1910 zunehmend in Vergessenheit geriet.
»Passé et présent. 1830–1838«, im Original »Vergangenheit und Gegenwart. 1830 bis 1838«, gedruckt im ersten und einzigen Jahrgang des »Jahrbuchs der Literatur« für 1839 (Hamburg, Hoffmann & Campe 1838, S. 1–110) und von Gutzkow später in keine andere Ausgabe mehr aufgenommen, ist keines seiner zentralen Werke. Es ist allerdings von besonderem Interesse insofern, als es einen autobiografischen Rückblick auf seine frühe Produktion, auf die Zeit des Jungen Deutschland am »Ende der Kunstperiode« nach Goethes Tod (1832), sowie nicht zuletzt auf die Rezeption der Julirevolution und der beginnenden Julimonarchie gibt. Insofern ist kennzeichnend, wie der Text einsetzt: Gutzkow sollte in Berlin aus der Hand des Universitätsrektors Hegel den Jahrespreis der Philosophischen Fakultät entgegennehmen, aber seine Gedanken waren nur in Paris, wo »eben ein König vom Thron gestoßen wurde«, und abends nahm er »zum ersten Male eine Zeitung vor’s Gesicht«, »wollte nur wissen, wie viel Todte und Verwundete es in Paris gegeben, ob die Barricaden noch ständen«: »Der Kanonendonner zwischen den Barrikaden von Paris dröhnte bis in die Aula nach«.
Es ist diese Politisierung, der neue Bezug zur unmittelbaren Gegenwart und zur »socialen Frage«, die Liberalisierung der Erotik (die »Emancipation des Fleisches«) und der Blick auf die außerdeutsche, vor allem gerade auch französische politische Entwicklung, die die neue Literaturkonzeption im expliziten Gegensatz zur »versumpften Literatur der Restaurationsperiode« kennzeichnen und für die Gutzkow ausdrücklich Börne und Heine als Vorbilder nennt. »Die gleichmäßige Idee von politischer Freiheit hüben und drüben ließ die Völker eher zu Bundesgenossen, als zu Feinden werden«, fasst Gutzkow diese Entwicklung zusammen, in der die Literatur »in fast allen ihren Richtungen die Farbe des Zeitgeistes« annahm. Im Mittelpunkt steht dabei eine (natürlich auch autobiografische) Abrechnung mit dem Jungen Deutschland zwischen der Revolution von 1830, dem Hambacher Fest von 1832 und dem Verbot von 1835. Die Gutzkow einstmals literarisch nahestehenden Heinrich Laube und Theodor Mundt werden überaus kritisch betrachtet, dafür erhalten – eher ungewöhnlich für die Zeit – die weiblichen Stimmen (voran Rahel Varnhagen und Charlotte Stieglitz, ohne deren Tod »ich den Roman: ›Wally, die Zweiflerin‹, nicht geschrieben hätte«) ein eigenes würdigendes Kapitel. Gutzkows Hoffnung für die Zukunft, so lässt sich der Text resümieren, richtet sich auf eine Versöhnung von Literatur und Philosophie und, daraus entspringend, auf eine emanzipierte Literaturkritik.
Lucien Calvié, Herausgeber und Übersetzer von »Passé et Présent. 1830–1838« liest den Text in seinem Vorwort – eher ein spezialisierter Forschungsbeitrag als eine Textpräsentation im engeren Sinn – auf verschiedenen Ebenen als einen aufschlussreichen Beleg für das Verhältnis von Literatur und Geschichte zwischen 1830 und 1838. Zum einen verweist er auf mehrere politische Artikel Gutzkows, die dieser – wie eben auch den hier zugrundeliegenden Text – ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen Praxis nie wieder in einen Sammelband oder eine Werkausgabe aufgenommen hat. Es handelt sich dabei um Texte (einer von ihnen in Rottecks »Allgemeinen Politischen Annalen«), in denen er die Unvereinbarkeit des preußischen Absolutismus mit dem süddeutschen Liberalismus aufzeigt und dafür plädiert, den antidespotischen Kampf auf der Ebene der jeweiligen Einzelstaaten zu organisieren. Nur die vereinten Kräfte von Liberalen und Radikalen (ohne den Begriff Republikaner zu gebrauchen) in jedem Bundesstaat eröffneten hinreichend politischen Druck für Reformen im gesamten Bund. Literarisch geformt verarbeitet er seine Erfahrungen im »Reisetagebuch des jüngsten Anacharsis« von Stuttgart nach Berlin und den »Narrenbriefen« (beide 1832, beide im Unterschied zu den politischen Artikeln verändert in spätere Ausgaben übernommen). Calvié liest den Text – nicht verwunderlich angesichts seiner zahlreichen einschlägigen vorhergegangenen Veröffentlichungen – aber auch als ein weiteres Dokument in der Geschichte der Auseinandersetzung um den Hegelianismus und seine unterschiedlichen Strömungen. Interessant ist hier sein Hinweis auf Saint-René Taillandier, der in der »Revue des Deux Mondes« 1844 den Junghegelianismus und das Junge Deutschland trotz ihrer journalistischen Rivalität als zwei Teile einer einzigen Bewegung wahrgenommen hatte.
Gutzkows »Vergessen« seiner antipreußischen politischen Texte von 1832 und die vielleicht noch erstaunlichere Nicht-Erwähnung Büchners und seiner eigenen Verdienste an dessen Bekanntwerdung (Publikation von »Dantons Tod« im »Phönix«, 1835) liest Calvié als »probablement le résultat d’un calcul tout à fait conscient, celui d’éliminer ou de camoufler sa part la plus évidente de radicalisme politique« (S. 40), um nicht erneut wie 1835/1836 zur Zielscheibe von Zensurdebatten und Verbot zu werden. Die Rückschau von 1838 hätte demnach vor allem auch die strategische Funktion der öffentlichen Selbstpositionierung im literarischen Feld der Zeit.
Die Übersetzung des Textes ist, wie von einem so hochkarätigen Spezialisten wie Lucien Calvié nicht anders zu erwarten, makellos. Eine sechsseitige Chronologie hilft, sich in Gutzkows Lebensstationen zurecht zu finden; noch verdienstvoller sind die 20 Seiten an »Notices biographiques« der etwa 200 im Text erwähnten Personen – ein name dropping (S. 17), das der vielfältigen eigenen Verortung Gutzkows in Bezug auf die Zeitgenossen zwischen Julirevolution und Rheinkrise dient und hier für heutige Leserinnen und Leser aufbereitet wird.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Thomas Bremer, Rezension von/compte rendu de: Karl Gutzkow, Passé et Présent. 1830–1838, Paris (Classiques Garnier), herausgegeben von Lucien Calvié, 2023, 157 p. (Littératures du monde, 48), ISBN 978-2-406-14206-5, EUR 23.00., in: Francia-Recensio 2023/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.3.99985