Um Éric Zemmour, ist es – zumindest von Deutschland aus betrachtet – nach seinem schlechten Abschneiden bei den Präsidentschaftswahlen 2022 ruhiger geworden. Die Annahme, das Problem hätte sich damit erledigt, wäre allerdings falsch. Denn die Themen, die damals seine Popularität begründeten, sind nach wie vor virulent: Dazu zählen ein militanter Antifeminismus, der Glaube an den von den »herrschenden Eliten« geplanten »Großen Austausch«, Islamfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus und ein unbelehrbarer Geschichtsrevisionismus. Und der anhaltende Zuspruch zu diesen die Demokratie gefährdenden Einstellungen ist nicht nur für Frankreich kennzeichnend, sondern auch für die rechtspopulistische und -extremistische Szene andernorts. In Deutschland wurde dies zuletzt im Zusammenhang mit der Nominierung der Kandidaten der Alternative für Deutschland (AfD) für die Wahlen zum Europaparlament 2024 offensichtlich. Die Kandidatinnen und Kandidaten vertreten nämlich teilweise ähnliche Positionen, und gegen den ›Spitzenkandidaten‹ wurde parteiintern sogar der Vorwurf erhoben, er habe im französischen Präsidentschaftswahlkampf nicht Marine Le Pen vom Rassemblement national unterstützt, mit dem die AfD in der EP-Fraktion Identität und Demokratie zusammenarbeitet, sondern Zemmour.

Laurent Joly, directeur de recherche am CNRS und Autor mehrerer profunder Studien zum Vichy-Regime und zur extremen Rechten, konzentriert sich in seinem Essay auf den Komplex »Geschichtsrevisionismus«. In vier gut belegten Kapiteln ordnet er Zemmour in den Kontext der französischen extremen Rechten ein und bezeichnet ihn als Erben des »Ultrakatholiken« Louis Veuillot, des »Antisemiten« Édouard Drumont, des »Royalisten« Léon Daudet und vor allem des »Haupttheoretikers« der französischen extremen Rechten im 20. Jahrhundert, Charles Maurras. Schon in der Einleitung weist er auf die Verbindung zu dessen Denken und Strategie hin, insbesondere zum Konzept eines »integralen Nationalismus«, der sowohl »royalistisch« sei als auch »unversöhnlich gegenüber den inneren Feinden Frankreichs« wie »Juden, Protestanten, Freimaurern, Eingebürgerten« (S. 12).

Im ersten Kapitel stellt – und bejaht – Joly die Frage, ob Zemmour rechtsextrem sei: Als »Polemiker« und »Doktrinär« sei er mit einem »echten populistischen Instinkt« ausgestattet (S. 34). Seine den Tatsachen widersprechenden Behauptungen – etwa, dass »90 % der Widerstandskämpfer«, die 1940 ins Exil nach London kamen, der Action française angehört hätten – zielten auf eine Revision der Geschichte der »dunklen Jahre« und stellten ein »wesentliches Element der Kulturrevolution« dar, mit der Zemmour die »Akzeptanz seines Programms erreichen« wolle (S. 36f.). Das zweite Kapitel behandelt die Versuche, die Geschichte des Vichy‑Regimes umzuschreiben, um so die Rechte zu einen. Zemmour sei nämlich überzeugt, so Joly, dass Vichy die Rechte daran hindere, mutig gegen Ausländer und die »Islamisierung« Frankreichs zu kämpfen (S. 68).

Im dritten Kapitel geht es um die Angriffe auf die 1973 unter dem Titel »La France de Vichy« erschienene Arbeit des amerikanischen Historikers Robert Paxton und dessen kritische Sicht der Politik Pétains insbesondere gegenüber den Juden. Im vierten Kapitel fasst Joly zusammen, wie Zemmour bei seinen Verfälschungen und Verdrehungen vorgeht: »prendre un fait réel et le déformer, souvent à partir d’un aspect secondaire (voir invisible pour un esprit autre que le sein) de ce même fait, pour arriver à lui faire dire autre chose ou pour proférer une généralité sidérante« (S. 104).

Joly hat eine konzise, unaufgeregte Auseinandersetzung mit den Ansichten und Methoden eines gefährlichen Politikers vorgelegt. Er vergisst nicht zu erwähnen, dass Zemmour auch das Produkt eines Mediensystems ist, in dem Werteverwirrung, Nivellierung und Verunglimpfung Aufmerksamkeit garantieren. Angesichts dieses Phänomens gebe es kein anderes Gegenmittel als »Genauigkeit der Fakten« und »Genauigkeit der Analyse« (S. 127). Diese Kriterien hat Joly auf vorbildhafte Weise erfüllt. Wer weiteres Material für die Auseinandersetzung mit Zemmour sucht, sei zudem auf die schmale Publikation eines Kollektivs von Historikerinnen und Historikern verwiesen, das im Februar 2022 unter dem Titel »Zemmour contre l’histoire« in der Reihe »Tracts Gallimard« erschienen ist.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Werner Bührer, Rezension von/compte rendu de: Laurent Joly, La falsification de l’Histoire. Éric Zemmour, l’extrême droite, Vichy et les juifs, Paris (Grasset) 2022, 136 S., ISBN 978-2-246-83081-8, EUR 12,00., in: Francia-Recensio 2023/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.3.99988