Der von den Historikern Niels F. May und Sébastien Ledoux herausgegebene Band befasst sich mit jungen Menschen, ihrer Geschichte und Gegenwart in Europa im Prozess der europäischen Integration, die sie tagtäglich betrifft. Deren Wurzeln sind aber meist unbekannt. Was verbindet die Jugend mit dem Begriff Europa? Fühlen sich junge Menschen z. B. als Europäer, als Franzosen, als Deutsche? Welche Kernthemen europäischer Geschichte, Gesellschaft, Verantwortung sind ihnen vermittelt worden? Welche Vermittlungsformen gab und gibt es? Existiert DIE europäische Jugend? Folgt man den Autorinnen und Autoren dieses durchweg sehr guten Bandes, existiert kein gemeinsames Narrativ eines Europas der Jugend.

Dieser Befund wäre nicht weiter schlimm, wäre der entsprechende Anspruch nicht über Jahrzehnte von den verantwortlichen Institutionen kolportiert worden. Für die Nationalstaaten, die europäischen Institutionen und ihre Partnerorganisationen stand die Schaffung eines gemeinsamen Narrativs einer europäischen Jugend mit an erster Stelle ihrer Bemühungen. Bis heute gibt es diese sinnstiftende europäische Erzählung jedoch nicht. Zu diesem Schluss kommen die Expertinnen und Experten des vorliegenden Bandes, der auf einen Studientag am Deutschen Historischen Institut in Paris im Jahr 2019 zurückgeht. Es gibt keine europäische Jugend, aber es gibt die Jugend in Europa, so ein weiteres Fazit nach der Lektüre. Nun kann man fragen, ob das denn so schlimm sei. Folgen wir den Analysen der Forschenden in diesem Band, möchte man diese Frage mit einem Nein beantworten. Denn: Betrachten wir die Programme, Ziele und Initiativen der europäischen Institutionen in den letzten Jahrzehnten, müssen wir konstatieren, dass sie wie so oft zu hoch gegriffen waren und der Wunsch über die Realität hinauswuchs, wie häufig in der Geschichte der europäischen Integration. Insofern ist es wenig verwunderlich, wenn die Autoren insgesamt die »réalité distante« der europäischen Institutionen betonen.

Doch wie begegnet die Jugend Europa? Welche Bilder wurden ihr vermittelt, um sie zu »Europäern« zu machen und ihr das Bewusstsein für den Wert der europäischen Integration zu vermitteln? Welche Akteure spielten und spielen hier eine Rolle, welche Programme und Initiativen und mit welchem Erfolg? Das sind die großen Fragen dieses Buches. Zu Wort kommen 17 Autorinnen und Autoren, deren Analysen hier nur zum Teil angesprochen werden können.

Nach einem Vorwort des Politikers und ehemaligen Europaabgeordneten Alain Lamassoure widmet sich Sébastien Ledoux den theoretischen und praktischen zeitgeschichtlichen Herausforderungen. Danach ist das Buch in drei Teile gegliedert: »Temporalités« (Zeiten), »Lieux« (Orte) und »Vecteurs« (Vektoren der Vermittlung).

In ihrem Beitrag über das internationale Jugendtreffen im Sommer 1951, bei dem sich 35 000 junge Menschen trafen, interpretiert Corine Defrance das Treffen an der Loreley als Zeichen für Demokratisierung und Verständigung zwischen den Jugendlichen in Europa. Sie stellt die berechtigte Frage: War es ein Treffen der Jugend oder für die Jugend? Diese Frage führt sie weiter bis zu Initiativen aus den 2000er-Jahren, in denen es mehr als bilaterale Treffen waren, nämlich europäische Begegnungen.

Raphaëlle Ruppen Coutaz widmet sich in ihrem Beitrag über die »Association Européene des Enseignants« (AEDE) in den 60er-Jahren den Initiativen von Lehrerinnen und Lehrern, sich die Vermittlungskompetenz mit Blick auf ein zusammengehörendes Europa anzueignen. Die AEDE wurde 1956 in Paris gegründet und hat seitdem den Auftrag und das Ziel, Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler bei der Vermittlung des Wissens über die gemeinsame europäische Geschichte zu unterstützen.

Emmanuel Droit beschäftigt sich in seinem Beitrag damit, wie sich nach 1989/90 die Erinnerungskulturen an den Zweiten Weltkrieg entwickelten, identifiziert auch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs spezifisch östliche und westliche Erinnerungskulturen, die bis heute fortleben.

Patrick Cabanel konstatiert, dass in der Schulliteratur und in der Belletristik für Jugendliche zu wenig gemeinschaftsstiftende Geschichten über Europa geschrieben würden. Erzählungen, orientiert an der Erfahrung eines gemeinsamen Europas, könnten hier identitätsstiftend wirken.

Christine Cadot schreibt über »Europa im Museum«. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Geschichte der europäischen Integration zu positivistisch erzählt werde und kritische Realitäten und Krisen der Integration in den Hintergrund gerieten. So sei es fast unmöglich, jugendliche Besucher zum Hinterfragen des Präsentierten zu motivieren.

Europa auf sportlicher Art widmen sich Kevin Tallec und Philippe Vonnard, wenn sie das internationale Fußballturnier für Junioren in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen stellen. Gegründet wurde dieses Turnier 1947/48. Es hatte nicht nur die sportliche Betätigung der Jugendlichen zum Ziel, sondern sollte durch das Spiel gegenseitigen Respekt, Zusammenarbeit, Teamgeist und Verständigung fördern. Wichtig war dies, so Tallec und Vonnard, besonders bis zum Niedergang des Ostblocks, da der Sportaustausch Kontakte ermöglichte, die in anderen gesellschaftlichen oder politischen Feldern nicht möglich gewesen wären.

Auch Eléonore Hamaide-Jager stellt die Frage, wie Europa der Jugend vermittelt werden kann, hier mit Bezug auf Kinder- und Jugendliteratur. Europa erscheine nur verdeckt und als Randthema, besonders in der jüngeren Literatur. Dennoch gebe es Bemühungen, das Thema erfahrbar zu machen, die erwähnenswert, weil lesenswert seien: die Kollektion »Enfants du monde« oder »Connais-tu mon pays?«, die in mehreren Sprachen erschienen. Andere – einzelne – Veröffentlichungen schlossen sich an, die den Jugendlichen die anderen Länder Europas näherbringen sollten.

Als Conclusio, unter anderem formuliert von Gérald Chaix, entsteht das Bild einer Pluralität von Narrativen über Europa. Ein gemeinsames Narrativ, ein gemeinsames Erinnern, das es in vielen Nationen gibt, das vielleicht als gemeinhin europäisch gelten könnte, sind die Erinnerung an prägende schlimme Erfahrungen in der europäischen Geschichte, wie die Erinnerung an Auschwitz, im Sammelband von Peter Carrier behandelt, oder gemeinsame Praktiken wie die Lektüre des Tagebuchs der Anne Frank. Eine europäische Geschichte für die Jugend zu schreiben oder sie durch Museen, Initiativen und Jugendtreffen selbst zu gestalten und zu erfahren, bleibt Aufgabe der Zukunft, so die Quintessenz nach der Lektüre des Buches, die besonders empfohlen wird.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Ines Soldwisch, Rezension von/compte rendu de: Sébastien Ledoux, Niels F. May (dir.), Transmettre l’Europe à la jeunesse. XXe–XXIe siècles, Rennes (Presses universitaires de Rennes) 2023, 156 p. (Histoire), ISBN 978-2-7535-8714-4, EUR 20,00., in: Francia-Recensio 2023/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.3.99993