Die Erforschung des Neoliberalismus erlebte in jüngster Zeit in der Politik- und der Geschichtswissenschaft einen enormen Aufschwung, sodass sich unweigerlich der Eindruck aufdrängt, dieses Phänomen sei allmählich »ausgeforscht«. Ariane Leendertz, Privatdozentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München, ermöglicht mit ihrem originellen Zugriff jedoch tatsächlich einen frischen Blick auf Entstehung und Entwicklung des neoliberalen Paradigmas: Sie lässt im Unterschied zu vielen anderen Studien nämlich keinen Zweifel daran, dass es nicht allein finanzkräftige Unternehmer und Stiftungen waren, die für Deregulierung und Privatisierung warben, sondern dass es reale, unlösbar erscheinende Probleme in bestimmten Bereichen gab, welche die Überzeugung nährten, der Staat sei als »Prolemlöser« überfordert. Als einen solchen Bereich hat Leendertz die »Urban Policy« identifiziert. An diesem Beispiel zeichnet sie auf zwei Ebenen – der ideellen Ebene sozialwissenschaftlicher Theoriedebatten etwa über »Komplexität« und »Regierbarkeit« sowie der institutionellen Ebene der Regierungspraxis – die allmähliche Erschöpfung problemlösender Politik in den USA seit der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre differenziert nach. Das leuchtet ein, sind die Vereinigten Staaten doch als »Vorreiter politischer Theorie und Praxis im Neoliberalismus« von »besonderem Interesse« (S. 13).
Leendertz versteht ihre Wissenschafts-, Ideen- und Politikgeschichte verschränkende Studie als »Beitrag zur gegenwartsnahen Zeitgeschichte« und deutet die 1970er- und 1980er-Jahre als »Schlüsselperiode, um gesellschaftliche Transformationsprozesse zu erfassen«, welche nicht auf einzelne Bereiche beschränkt blieben, sondern die »Gesamtkonstellation veränderten« (S. 12). Die zeitgenössischen Debatten werden vorrangig anhand gedruckter Quellen – Regierungsberichte, »graue« staatliche Publikationen und Kongressakten über Anhörungen – rekonstruiert. Daneben nutzt die Autorin aber auch Archivquellen, insbesondere den Nachlass der ersten afroamerikanischen Bundesministerin in den USA, Patricia Roberts Harris, die 1977 die Leitung des Department of Housing and Urban Development übernahm, und die Papiere Stuart Eizenstats, der Präsident Jimmy Carter in innenpolitischen Fragen beriet.
Die chronologisch angelegte Studie setzt ein mit den schweren Unruhen im Stadtviertel Watts in Los Angeles im August 1965. Sie rückten die »Urban Crisis«, die »zugleich eine Chiffre für die prekäre soziale und ökonomische Lage der afroamerikanischen Bevölkerung war« (S. 38), ins öffentliche Bewusstsein. Seit den 1950er-Jahren hatten verschiedene Regierungen mit Förderprogrammen in die Stadtentwicklung eingegriffen, um die Sanierung von »Slums« und die »Wiederbelebung« heruntergekommener Viertel zu unterstützen: »Städtische Probleme galten in der Demokratischen Partei als nationale Probleme, deren Lösung im gesamtgesellschaftlichen Interesse lag« (S. 58). Obwohl diese staatlichen Eingriffe »ihren Anfang in einer Zeit genommen hatten, als der Privatsektor die Probleme der Wohnungsnot gerade nicht zu lösen vermochte« (S. 62), wuchs, nicht zuletzt infolge geschickter Lobbyarbeit, nach und nach der Glaube, nur der Markt könne die vielfältigen Probleme beheben. Dazu trug unter anderem die »Entdeckung sozialer Komplexität« (S. 71) bei. Damit wurde dem bis dahin vorherrschenden »solutionism« langsam die Basis entzogen. Wie sich diese Entwicklungen in den sozialwissenschaftlichen Debatten über »Komplexität« und »Regierbarkeit« niederschlugen, kann die Autorin detailliert zeigen.
Die nächsten zwei Kapitel sind den Versuchen der Regierungen Ford und Carter gewidmet, den Niedergang der Städte zu stoppen. Während erstere der Privatwirtschaft mehr Verantwortung zugestand, setzte letztere stärker auf »Partnerschaft« zwischen »staatlichen und privaten Akteuren« (S. 183). Die »National Urban Policy«, welche die Regierung Carter unter Mühen 1978 präsentierte, stand deutlich in der Tradition des »solutionism«. Diesen Ansatz lehnte Carters Nachfolger Ronald Reagan bekanntlich grundsätzlich ab. Erwartungsgemäß vollzog die neue Regierung, wie Leendertz im sechsten Kapitel zeigt, einen radikalen Kurswechsel, indem sie »Steuersenkungen, Haushaltskürzungen und Personalpolitik als Hebel« einsetzte, um »die staatlichen Handlungsspielräume im Feld der Urban Policy von vornherein erheblich einzuschränken« (S. 262). »Kurioserweise«, merkt sie an, erwartete die Regierung trotzdem Mehreinnahmen und projektierte »einen ausgeglichenen Haushalt für 1984 und sogar einen Überschuss für 1985«. Dabei drehten die Verantwortlichen, wie ein hochrangiger Beamter wenig später zugab, »die Zahlen solange hin und her, bis sie das ›richtige‹ Ergebnis erbrachten« (S. 270). Die letzten beiden Kapitel befassen sich mit der »neuen Philosophie der Urban Policy«, d. h. »Markt und Wettbewerb als Garanten von Effizienz und Qualität« (S. 319), und dem Übergang zum Konzept des »New Public Management« unter der Regierung Clinton. Die Autorin verdeutlicht die Nähe zwischen dem »neoliberalen, wertkonservativen Verantwortungs- und Freiheitsdiskurs und dem eher im linken Spektrum verankerten Kommunitarismus- und [von Clinton besonders geschätzten; W. B.] Empowermentdiskurs, der individuelle Freiheit, Autonomie und Selbstverwirklichung durch die Befreiung von bevormundenden gesellschaftlichen Normen versprach« (S. 387).
Das Buch demonstriert, dass der Neoliberalismus nicht von einigen ideologiegeleiteten Intellektuellen im Auftrag potenter, mehr oder weniger »finsterer« Geldgeber quasi »aus dem Nichts« ersonnen wurde, sondern auf reale, praktische Probleme in großen Städten Bezug nahm. Dass der freie Markt bei der Bewältigung dieser Probleme letztlich ebenfalls – und eigentlich wenig überraschend – scheiterte, vergisst Leendertz nicht zu erwähnen. Dies ändert freilich nichts an der von ihr überzeugend herausgearbeiteten Ausgangskonstellation. Sie ermöglicht damit einen präziseren Blick auf die Entstehung dieses Phänomens. Und das ist wirklich ein großes Verdienst.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Werner Bührer, Rezension von/compte rendu de: Ariane Leendertz, Der erschöpfte Staat. Eine andere Geschichte des Neoliberalismus, Hamburg (Hamburger Edition) 2022, 480 S., ISBN 978-3-86854-365-0, EUR 40,00., in: Francia-Recensio 2023/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.3.99994