Michelle Perrot gehört zu den auch international bekanntesten Historikerinnen Frankreichs. Ihr wissenschaftliches Œuvre wird durch zwei große Themen bestimmt: zum einen die Frauen- und Geschlechtergeschichte, hier ist vor allem auf die gemeinsam mit Georges Duby herausgegebene »Histoire des femmes« (5 Bde., 1991–1992) zu verweisen; und zum anderen die Geschichte der Kriminalität, der Strafjustiz und des Gefängnisses, auf welche der vorliegende Gesprächsband zurückkommt. Die Fragen stellt Frédéric Chauvaud, emeritierter Professor an der Université de Poitiers und selbst ein anerkannter Spezialist des Feldes.

In seinem kurzen Vorwort zeichnet er zunächst den Werdegang von Perrot nach, der im Poitou begann, wo ihre Großeltern nicht nur ein Landgut erworben hatten, das vormals eine landwirtschaftliche Strafkolonie für Kinder und Jugendliche gewesen war, sondern auch das Geburtshaus der dritten Person stand, die in den Gesprächen nahezu permanent präsent ist: Michel Foucault, der 1926 in Poitiers geboren worden war und während der Sommerferien im Haus seiner Eltern in Vendeuvre‑du‑Poitou, wo er auch begraben liegt, die meisten seiner Bücher vollendet hat. Das Gespräch gliedert sich in drei große Teile, die sich an den Themen orientieren, die Michelle Perrots Wirken geprägt haben: zunächst die Ursprünge des Interesses für die Geschichte von Kriminalität, Strafjustiz und des Gefängnisses in Frankreich, anschließend die Prinzipien der Gefängnishaft im 19. Jahrhundert, aber auch der Gefangenschaft von Kindern und Frauen, und schließlich das weite Feld der faits-divers und ihre Behandlung durch die Geschichtswissenschaft.

Im Gespräch kommt Perrot auf viele Aspekte zurück, etwa die »explosive« (S. 17) Wirkung, die Foucaults Buch »Surveiller et punir« (1975) gehabt hat (auf das sich wohl auch der – etwas schiefe – Titel des Gesprächsband bezieht), die vielen Initiativen, die sie ergriffen hat, um Foucaults Denken einer zunächst skeptisch und ablehnend eingestellten Historikerzunft zu vermitteln, ihre eigenen Lehrveranstaltungen – etwa das gemeinsam mit Robert Badinter an der EHESS veranstaltete Seminar zur Geschichte des Gefängnisses im republikanischen Frankreich –, aber auch die zahlreichen Arbeiten, die sie als Forscherin selbst durchgeführt, angeregt und begleitet hat, allen voran das Buch ihres Schülers Jacques-Guy Petit, »Ces peines obscures« (1990), über die Strafhaft in Frankreich zwischen 1780 und 1875, das auch heute noch als Standardwerk gilt. Erwähnung finden zahlreiche Weggefährten, zum Beispiel Philippe Robert, Jean-Claude Vimont oder Dominique Kalifa, aber auch die großen Namen der Gefängnisreform des 19. Jahrhundert: Bentham, Howard, Tocqueville. Dabei geht es immer wieder nicht nur um die Frage, wie das Gefängnis als allgemeine Strafform historisch möglich geworden ist, sondern auch um seine Rolle und Funktion in den liberal-demokratischen Gesellschaften der Gegenwart. Michelle Perrot schaut also auf 50 Jahre Forschung in einem Feld zurück, das bis heute sicherlich zu den erfolgreichsten der französischen Geschichtswissenschaft zählt, das immer wieder aber auch Anlass für die Selbstbefragungen der Gesellschaft ist.

Hier liegt klar der Gewinn des kleinen Bandes: Ihre vielleicht bedeutendste Protagonistin blickt auf die unbestreitbaren Leistungen einer französischen Historiografie zurück, die stilbildend auch für die Forschung in anderen Ländern war. Dabei geht es nicht um simple Erinnerungen an eine bewegte Zeit oder an die Begegnung mit berühmten Zeitgenossen, wie sie das Genre der Erinnerungsliteratur oft genug kennzeichnet. Vielmehr wird deutlich, was den Erfolg der französischen Kriminalitätsgeschichte und Strafjustiz in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ausmachte: ein permanenter, aber reflektierter Rückbezug der Forschungsfragen auf die Probleme der eigenen Gegenwart. In Perrots Reflektionen spiegelt sich gewissermaßen das Vermächtnis einer ganzen Generation von Historikerinnen und Historikern wider, die gesellschaftspolitisch Verantwortung übernehmen wollten, ohne die Standards der eigenen wissenschaftlichen Arbeit aus den Augen zu verlieren.

Dass dabei auch die eine oder andere Leerstelle sichtbar wird, ist nahezu unvermeidlich. So wird einmal mehr offenbar, wie stark die französische Geschichtsschreibung über Jahrzehnte von Foucault geprägt wurde, dessen Ideen bis heute das intellektuelle Grundgerüst einer jeden Beschäftigung mit dem Thema bilden. Erst in den letzten Jahren versucht eine neue Generation von Historikerinnen und Historikern, sich aus den Fesseln einer auf die Zeitgeschichte konzentrierten Historiografie zu befreien und etwa die von Foucault, aber auch von Perrot und ihren Mitstreitern als zentral angesehene Epochengrenze der Französischen Revolution zu überwinden. Ebenso erstaunt, wie stark die Perspektive in den Gesprächen immer wieder auf Frankreich fokussiert. Dass sich die Historiografie in den letzten Jahrzehnten erheblich internationalisiert und Entwicklungen herausgearbeitet hat, die dem französischen »Normalfall« nicht immer entsprechen, wird weitgehend ausgeblendet. Insofern ist das Gespräch zwischen Chauvaud und Perrot ein in vielerlei Hinsicht signifikantes Dokument einer großen Epoche der französischen Geschichtsschreibung – mit allen ihren Stärken, aber auch mit ihren Schwächen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Falk Bretschneider, Rezension von/compte rendu de: Michelle Perrot, Punir et comprendre. Entretiens avec Frédéric Chauvaud, Rennes (Presses universitaires de Rennes) 2023, 128 p. (Épures), ISBN 978-2-7535-8973-5, EUR 9,90., in: Francia-Recensio 2023/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.3.99999