Verloren-Sein?

Der Verlust der lebensweltlichen Orientierung in der Alzheimer-Demenz aus phänomenologisch-psychopathologischer Sicht

Abstract

Angesichts der Einseitigkeiten des vorherrschenden, naturalistisch-kognitivistischen Paradigmas in der Erforschung von Demenzerkrankungen versteht sich der Beitrag als Teilstück einer phänomenologischen Psychopathologie der Demenz, die bis dato ein Desiderat darstellt und in deren Zentrum die lebensweltliche Erfahrung von Personen mit Demenz steht. Dabei bildet die Frage danach, wie es sich anfühlt, an Alzheimer-Demenz (AD) erkrankt zu sein, den roten Faden der vorliegenden Studie. Auf der Basis der einleitenden Differenzierung zwischen alltäglichem und pathologischem Orientierungsverlust werden zwei Forschungsthesen formuliert, die die Klammer der gesamten Untersuchung bilden: Bei der AD handelt es sich um eine dauerhafte Modifikation von Orientiertheit (1) und Vertrautheit (2), die im Sinne einer existenziellen Heimatlosigkeit die Art und Weise grundlegend verändert, wie wir uns selbst, die Mitmenschen sowie die Welt insgesamt erfahren können. Unter Rückgriff auf die Arbeiten von Edmund Husserl (1859–1938), Karl Bühler (1879–1963) und Thomas Fuchs (1958–) werden grundlegende Theoreme wie ‚Lebenswelt‘, ‚Situativität‘, ‚Origo‘, ‚Zeigfeld‘ oder ‚Oikeiosis‘ miteinander verschränkt und auf die AD angewendet. Als systematisches Bindeglied fungieren sog. ‚okkasionelle Ausdrücke‘ (OA), wie ‚ich‘, ‚hier‘ oder ‚jetzt‘: Sie dienen sowohl als Heuristik, um die enge Verbindung von Sprache und Orientierung anzuzeigen als auch bei AD als ‚Defizitindikatoren‘ (in ihrer pronominalen Funktion) sowie als ‚Ressourcenindikatoren‘ (in ihrer zeigenden Funktion). Derart wird eine Perspektive auf AD geworfen, die die sprachliche wie leibliche Dimension, explizite wie implizite Vollzüge und diagnostische wie therapeutische Aspekte zu integrieren vermag.