Die Erforschung mittelalterlicher Buchsammlungen und Bibliotheken sowie der Umgang mit Büchern und die mit ihnen verbundenen Kulturpraktiken sind seit einigen Jahren nicht nur wieder en vogue, sondern auch in einem Erneuerungsprozess begriffen: Päpstliche Bibliotheken und Lesepraktiken1 ebenso wie Sammlungen von weiblichen Buchbesitzerinnen2 oder jene in königlichen Haushalten3 werden einer neuen Betrachtung unterzogen. Die beiden hier zu besprechenden Monografien können genau zu dieser »Erneuerung« gezählt werden: Die Monografie in französischer Sprache von Sarah Fourcade untersucht, wie die Gruppe von französischen Adeligen sowohl das Objekt Buch als auch die Kulturtechnik von Schriftlichkeit zwischen ca. 1300 und ca. 1500 nutzt; die englischsprachige Monografie von S. C. Kaplan analysiert insbesondere, wie hochadelige Frauen das Objekt Buch als auch die Kulturtechnik von Schriftlichkeit vor allem im 15. und 16. Jahrhundert nutzen4. In chronologischer Folge ihres Publikationszeitpunktes wird im ersten Teil die Studie von Fourcade besprochen, im zweiten folgt diejenige von Kaplan. Der dritte Teil versucht in komparatistischer Perspektive eine Bewertung vorzunehmen.

Die Studie von Sarah Fourcade, hervorgegangen aus einer 2008 verteidigten Dissertation an der Universität Paris IV, wendet sich der Gruppe der lesenden Adeligen zu; einer Gruppe also, die, wie die Autorin öfters unterstreicht, qua Stand eigentlich nicht für den Buchbesitz, Nutzungen oder gar eigene Schriftlichkeit prädestiniert, ja die kulturell gar als »ewig verspätet« (S. 345) wahrgenommen werden müsse und somit die Buchnutzung durch diese gesellschaftliche Gruppe als »Eroberung« (siehe Titel, genauer S. 13) zu bewerten sei.

Um dies zu belegen, nimmt sich die Autorin des Adels im Königreich Frankreich zwischen 1300 und 1550 an. Dieser ehrgeizig konzipierte Überblick gelingt dank einer prosopografischen Begrenzung ihrer Objekte – wer für diese Studie im Untersuchungszeitraum als »adelig« gilt, das legt sie akribisch fest (S. 27f.): keine Mitglieder der Königsfamilie, keine hochadeligen Prinzen und Prinzessinnen, aber auch keine frisch geadelten sozialen Aufsteiger, die über ihren Dienst oder Heirat zum Adel gestoßen sind. Die Daten zum Buchbesitz für diese Auswahl entnimmt die Autorin (S. 22–26) unter anderem einer detaillierten Durchsicht von Editionen und Bibliothekskatalogen und einer ebenso genauen Analyse der »fichiers« (Datensätze) des Institut de recherche et d’histoire des textes, das sich seit Jahrzehnten der Erforschung von Buch- und Bibliotheksgeschichte verschrieben hat5. Nur mit Hilfe dieser Vorarbeiten kann die vorliegende Studie dem weiten geografischen und chronologischen Rahmen gerecht werden.

Entsprechend ihren engen Vorgaben identifiziert die Autorin 884 Individuen, Männer wie auch Frauen, von denen 673 Buchbesitzerinnen und Buchbesitzer sind, 59 Besitzende von Buchsammlungen, 78 Autoren und Autorinnen, 67 Mitwirkende bei poetischen Textsammlungen und 27 Verfassende von »privaten« Texten. Diese Kategorien werden in ihren jeweiligen Anhängen aufgeführt und die Bücher, Handschriften oder Titel aufgelistet – ein wahrer Schatz ist dort gehoben und in den vier, insgesamt über 270 Seiten einnehmenden Anhängen zusammengetragen worden.

In ihrer Einleitung stellt Fourcade ihre Grundgedanken zur adeligen Kultur und Buchforschung dar. Neben der oben beschriebenen Delimitierung ihres Korpus setzt sie sich auch mit den methodischen Leitfragen auseinander, wie die Gruppe »ihrer« Adeligen mit dem Phänomen Schriftlichkeit (hier verwendet sie den deutschen oder aber den englischen Terminus literacy, da es keinen adäquaten französischen gibt) und Buchbesitz umgeht: welche Formen der Buchnutzung gibt es, welche Funktion hat das Buch, welchen Platz nehmen Schreiben und Dichtung in dieser Gruppe von Laien ein? Denn statt normativen Anforderungen an den Adel steht in dieser Studie durch die Fokussierung auf den Umgang mit Büchern und Schriftlichkeit stärker die interessante praxeologisch-anthropologische Herangehensweise im Vordergrund.

Der erste Teil diskutiert das Profil des Korpus’ und stellt die Personen vor. Die Autorin nähert sich der Entwicklung des Bildungsstandes ab der Kindheit an: Bildung und Erziehung durch die Mutter, die Amme, Privatlehrer, aber auch Schulen und, vor allem je weiter der Untersuchungszeitraum voranschreitet, eine soziale und gesellschaftliche Selbstverständlichkeit im Umgang mit Büchern. Sodann nimmt sie in einem zweiten Teil das »kulturelle« und »ökonomische« Kapital in den Blick: welche Bücher zirkulieren wie innerhalb der Familien, wie werden Bücher innerhalb der Familie weitergegeben und vererbt?

Der dritte Teil ist der originellste, denn er stellt die Frage in den Mittelpunkt, welcher Wert dem Objekt Buch beigemessen wird und wie sich die Kulturpraktiken des Umgangs mit Büchern und des Schreibens in der sozio-kulturellen Gruppe des Adels verankern. Wie entstehen Büchersammlungen, wo werden sie gekauft, verliehen, verschenkt? Die Autorin untersucht auch, welchen Platz Patronage, eigenes Dichten und die Partizipation an poetischen Kreisen einnehmen. Vor allem der Einfluss eines höfischen Modells von Adeligen im Dienst von Prinzen und Herrschern wird von ihr als wichtiger »Motor« eines adeligen gelehrten Buchumgangs identifiziert. Ihre Analyse der beliebten Textgenres unterstreicht, dass Devotionsliteratur und normative Texte einen erheblichen moralischen Beitrag leisten und prominent in adeligen Sammlungen zu finden sind, ebenso Geschichte wie Antikenrezeption sowie Technik für Jagd und Militär, die ebenfalls gut abschneiden, und diese noch vor Entertainment-Literatur. Schließlich legt die Autorin dar, wie eigenes Schreiben, Archivieren und Egodokumente einem eigenen Zweck folgen, den der oder die gelehrte Adelige in der höfischen Kultur zu etablieren, ja gar als einen Baustein adeliger Selbstbestimmung festzuschreiben sucht.

Als Fazit kann festgehalten werden: Sarah Fourcade führt mit einer beeindruckenden Menge an Belegen die Entwicklung und Etablierung von gelehrten Interessen und gebildeten Praktiken einer großen Gruppe Adeliger im spätmittelalterlichen Frankreich vor. Sie identifiziert dabei den Dienst an einem hochadeligen Hof (beim französischen König oder an den aufstrebenden Höfen von Orléans und Burgund) als Katalysator. Gerade im Hinblick auf diesen Befund ist es schade, dass sie dabei aufgrund ihrer schematischen Vorgehensweise und ihrer Engführung auf den Adel (mit Exklusion des Hochadels und der gerade erst geadelten Bürgerlichen) die Wechselwirkungen und Imitationen zwischen schreibenden Funktionsträgern in der königlichen Kanzlei, in den hochaktiven Städten und am Hof komplett ausblendet. Kann man dann einfach behaupten, dass dieser eng verstandene Adel der »Motor« adeliger Bildung und Gelehrsamkeit gewesen sei? Ebenso fraglich ist aufgrund der Korpusauswahl die Aussage, dass gerade eine Abstammung aus dem Nordosten Frankreichs und der Dienst am burgundischen Hof maßgeblich die adelige Praxis des Verfassens und Lesens beeinflusst hätten. Denn eben diese Höfe, ihre Sammlungspraktiken und ihre Literaturproduktion, darunter vor allem der burgundische Hof (der die nordostfranzösischen und flämischen Gebiete umfasst), stehen seit den Editionen der Inventare und Bibliothekskataloge von Georges Dutrépont6 stets im Fokus der frankophonen Bibliotheksforschung. Insofern stellt sich die Frage, inwiefern genau diese Ergebnisse der Analyse vom kulturellen Umgang mit Büchern, die sich auf eben diese Filiation und Vorarbeiten beruft, nicht auch logischerweise zu einer self-fulfilling prophecy führen? Wäre hier ein Forschungsdesign mit einer engeren geografischen Auswahl, fokussiert auf bisher unerforschte Gebiete, in einem kleineren Zeitrahmen nicht auch »überraschender« gewesen?

Hier setzt die Studie von S. C. Kaplan an. Die 2022 erschienene Monografie baut auf der Dissertation der Autorin im Fach Romanistik an der Universität von Kalifornien, Santa Barbara, von 2016 auf und erweitert wesentlich den geografischen Rahmen: Sie bezieht die französische Königsfamilie in Paris mit ein, die Fürstenhöfe in Burgund sowie im Bourbonnais mit einer Fallstudie zur Bibliothek von Moulins. Diese Studie fragt danach, wie sich die Bibliotheken und Büchersammlungen der adeligen Frauen im französischsprachigen Spätmittelalter entwickelten, am Beispiel von Leseströmungen und Themen, die von den Leserinnen des 15. Jahrhunderts aufgegriffen wurden. Der Untertitel »A Family Affair« macht deutlich, dass dabei der Buchbesitz und die Buchverwendung innerhalb von Familienverbänden – dabei insbesondere von Frauen – im Mittelpunkt der Studie stehen. Die Autorin stellt ein Desiderat bei der Bewertung der Rolle von Frauen in der Buchsammlung und -nutzung, die grundsätzlich unhinterfragt als »männlich« interpretiert wird, fest (ab S. 3).

Dafür geht die Autorin in Fallstudien vor, die die Rolle des Umganges mit Büchern in mehreren Frauengenerationen analysieren, um zu zeigen, wie eng die literarische Kultur an den verschiedenen französischsprachigen Höfen miteinander verbunden war. Im Mittelpunkt der Studie stehen somit einzelne Frauenfiguren, die sie in drei »Generationen« einteilt (die erste geboren zwischen 1360 und 1385; die zweite zwischen 1395 und ca. 1415; die dritte zwischen 1420 und 1450), darunter vor allem Frauen aus dem Hochadel oder sogar aus der Königsfamilie, unter explizierter Berücksichtigung der familiären Beziehungen zwischen ihnen (vgl. S. 58f.). Die Anhänge ab S. 143 mit ihren Tabellen unterstreichen dies.

Das erste Kapitel fokussiert Buchgeschenke und Ausleihen, um deutlich zu machen, wie Schenken und Ausleihen bedeutende Handlungen bei der Schaffung von Büchersammlungen von Frauen und von intellektuellen Netzwerken zwischen Frauen und Männern der französischsprachigen Aristokratie im Spätmittelalter bilden. Gerade wenn die Schenkungen zu Lebzeiten der Schenkenden und der Beschenkten getätigt wurden, könne man daraus die Vorlieben der Beschenkten analysieren. Diese Bücher zeigen, dass die literarischen Vorlieben der Frauen einen bemerkenswerten Einfluss auf die Gestaltung der mit ihnen verbundenen Sammlungen hatten – einschließlich der Sammlungen anderer Personen im erweiterten Haushalt oder der Familie. Frauen liehen sich auch häufig Bücher aus. Obwohl die historische Dokumentation dazu im Allgemeinen lückenhaft sei, könne man dennoch daraus das Leseverhalten von Laienfrauen und die daraus resultierende Verbreitung der literarischen Kultur rekonstruieren und literarische Vorlieben auf Studien zu anderen Literaturgattungen extrapolieren.

Das zweite Kapitel wendet sich einer fokussierten Untersuchung von generationeller weiblicher literacy zu, indem einzelne Frauenbuchsammlungen auf bestimmte Gattungen oder Texte analysiert werden, um die Existenz von Lesetrends aufzuzeigen, die für jede der drei Generationen französischsprachiger Aristokratinnen des 15. Jahrhunderts prägend waren. Das Stereotyp der mittelalterlichen Frauen als ausschließliche Leserinnen »religiöser« Literatur wird dadurch zwar nicht widerlegt, aber deutlich nuanciert. Weitere Textgenres, die in den Sammlungen dieser Frauen zu finden sind, darunter didaktische Literatur, Romane, Historien, Poesie und »Sonstiges«, machen deutlich, dass in der Tat Tendenzen zwischen den Generationen erkennbar sind, aber auch dass individuelle Vorlieben innerhalb einer bestimmten Generation erheblich variieren.

Daran schließt sich im dritten Teil die innovative Fallstudie zur Gestaltung der Bibliothek durch Frauen in Moulins an. Die bisher wenig untersuchte Bourbon-Bibliothek verdeutlicht die Rolle von Frauen bei der Entstehung wichtiger intellektueller Sammlungen und unterstreicht den Einfluss von Frauen auf die weibliche sowie männliche Kulturpraxis des Lesens und Sammelns. Diese Fallstudie ist in drei Abschnitte (oder Generationen) gegliedert, die den Regierungszeiten der ersten drei bibliophilen Herzoginnen von Bourbon entsprechen: Marie de Berry (reg. 1410‑1434), Agnès de Bourgogne (reg. 1434‑1456) und Jeanne de France (reg. 1456‑1482). Anhand der Chronologie und des Inhalts der jeweiligen Beiträge zur Sammlung wird deutlich, wie engagiert Frauen am Aufbau von Bibliotheken beteiligt waren, die fälschlicherweise als Männerbibliotheken angesehen wurden. Diese Zeitleiste erlaubt es auch, über den Einfluss der einzelnen Herzoginnen auf ihre Nachfolgerinnen zu spekulieren, was die Idee der familiären Kulturnetzwerke weiter untermauert. Die Arbeit in diesem Kapitel wird durch Anhang C unterstützt, der eine möglichst vollständige Neuedition und Identifikation von Handschriften und weiblicher Akkumulation der Bibliothek von ca. 1400 bis zu ihrer Inventarisierung und Beschlagnahmung durch König Franz I. von Frankreich 1523 bietet.

Zusammenfassend sollte unterstrichen werden, dass Kaplans Fallstudien die weiblichen Buchbesitzerinnen und ihren Umgang mit Büchern detailliert ins Rampenlicht rücken. Die beeindruckende Datenmenge für ihre gesamte Studie wird in den 160 Seiten starken Anhängen aufgearbeitet. Sie verwendet dafür Einträge aus den edierten Bibliotheksinventaren, die z. B. Buchausgänge vermerken. Ein Teil dieser Datenmenge ist in Zusammenarbeit mit Sarah Wilma Watson als visualisierte Datenbank, die aktuell 242 Buchbesitzerinnen, 1530 Bücher und 1301 Texte umfasst, im Internet einsehbar7. Insbesondere Kapitel 2 liefert methodische Anregungen und caveats wie die beträchtlichen Beweislücken und Datenverluste, die, da sie ein »vollständiges« Wissen über mittelalterliche Frauenbibliotheken verhindern, mitzudenken sind. Denn: ein Fehlen von materiellen Nachweisen ist kein Beleg dafür, dass es Büchersammlungen von Frauen nicht gab. Aber: was bedeutet dieses unzweifelhafte massive Aufflammen weiblicher Buchsammlungen für ihre Nutzung? Neben den Einträgen in den zeitgenössischen Buchinventaren (Anhang B), die deutlich machen, dass Bücher zu einem Parameter im Selbstbild der Hochadeligen wurden, wären hier Hinweise auf Trends und thematische Vorlieben aus den besessenen Büchern wichtige Indikatoren für eine vertiefte Analyse über die Verwendung von Texten. Auch würden sie wichtige Aufschlüsse über die tatsächliche Kulturpraxis des Lesens oder weitere Aneignungen ermöglichen (z. B. über Anmerkungen in Büchern, Besitzvermerke, Notizen etc.).

Die Rezension kommt nun zu einem komparatistischen Teil. Bisher machte sie deutlich, dass beide Studien wertvoll sind, insofern soll die folgende Kritik auf grundlegendere Problematiken des interdisziplinären und internationalen Austausches aufmerksam machen. Erstaunlicherweise finden sich in den beiden Monografien keine Verweise auf die Arbeiten der jeweils anderen Autorin – dabei publizieren beide seit mehreren Jahren zu diesen Themen und jeweils Teile der richtungsweisenden Forschungen sind öffentlich zugänglich: Fourcade verteidigte ihre Dissertation bereits 2008 und publizierte zahlreiche Artikel8; die Dissertation von Kaplan aus dem Jahr 2016 ist in Auszügen online einsehbar9. Ebenso verwundert es die Rezensentin, dass ihre eigene Studie von 2016 zu Büchersammlungen, Buchverwendung und Buchzirkulation am französischen Hof keinen Eingang in die beiden Bibliographien gefunden hat, obwohl beide besprochenen Werke auf einen ähnlichen Personenkreis abzielen, ferner eine identische Fragestellung sowie gleiches methodologisches Vorgehen zum Umgang mit Büchern und Büchersammlungen aufweisen und zudem alle drei zu ähnlichen Ergebnissen kommen. Die vermutlich unbeabsichtigte Ignoranz der jeweils anderen Studien wirft die Frage nach den Grenzen der eigenen Arbeit auf.

Ein Blick in die Bibliografie der beiden Arbeiten zeigt deutlich ein Gefälle in der Kenntnis der anderen Wissenschaftssprachen. Bei S. C. Kaplan, deren Promotion im Fach Romanistik erfolgte, sind die Kenntnisse des Neu- und Mittelfranzösischen in hervorragender Art vorhanden, dennoch stellt man bei ihr fest, dass die Mehrheit der zitierten Publikationen in ihrer englischen Übersetzung gewählt wurde. Bei S. Fourcade ist es überdeutlich: Hier lassen sich nichtfranzösische Titel, neben den »großen Klassikern« an einer Hand abzählen. Fast vollständig fehlen hingegen deutsche oder flämische Publikationen (immerhin arbeiten beide auch zu Burgund!). Insofern sei dies ein Plädoyer, selbst bei einem franko-französischen Thema auch immer die Forschungen in anderen Sprachen wahrzunehmen. In Zeiten von Fernleihen, Internetdatenbanken, digitalen Übersetzungshilfsprogrammen, der Option einer direkten Kommunikation und, im Falle von Dissertationen, einer Betreuung durch erfahrene Personen sollte dies möglich sein.

Vor diesem Hintergrund sollen aber auch strukturelle Schwierigkeiten angesprochen werden, die Forschung erschweren: ablaufende prekäre Verträge und somit das Ende von institutionellen Zugängen zu bibliothekarischen Ressourcen, so spricht S. C. Kaplan ihre eigene Situation während der Drucklegung in ihrer Danksagung (ohne Pagination) offen an. Insofern verwundert es nicht, wenn z. B. Überarbeitungen von Dissertationen oder Fertigstellungen von Monografien unter Zeitdruck oder für Karriereschritte entstehen. Erneut: Hier sind nicht die zwei Forscherinnen der besprochenen Werke oder ihre wissenschaftlichen Leistungen in der Kritik, sondern das System, das den beiden seine Ressourcenknappheit zum Nachteil der Forschung auferlegt, anzuprangern. Zudem wird ein Teil der Forschung zu französischen Bibliotheken von einigen Institutionen für Außenstehende (und erschwert, wenn aus dem Ausland kommend) mit derartigen Zugangshindernissen belegt, dass es einem gate keeping gleichkommt. Paradoxerweise hat dies einen positiven Nebeneffekt, den die beiden Arbeiten offenbaren: das notwendige Ausweichen auf andere Herrschaftszentren und Bestände in Regionalarchiven, was wiederum die Kenntnisse über Buchsammlungen und Buchnutzungen allgemein erweitert.

Dies könnten aber Perspektiven für zukünftige Arbeiten sein: S. Fourcade mit ihrer seriell-prosopografischen Herangehensweise ebenso wie S. C. Kaplan mit ihrer personell-netzwerkenden Analyse haben mit ihren komplementären Monografien jede eindrücklich den Wert von Bildung, den Umgang mit Büchern – und dies im Hinblick auf adelige Männer und Frauen – in einen weiten Kontext gestellt, der es uns erlaubt, einen Teil des Adels und seine kulturellen Praktiken neu zu überdenken und zu begreifen. Um diese Forschungen noch fruchtbarer zu machen, wäre es umso wichtiger, jeweils auch Forschungsergebnisse jenseits von Sprach-, Fach- und Akademiegrenzen zu rezipieren und zu verarbeiten, damit am Ende der Mehrwert für die interdisziplinäre und internationale Wissenschaft im Vordergrund steht.

1 Rainer Berndt (Hg.), Der Papst und das Buch im Spätmittelalter (1350–1500). Bildungsvoraussetzung, Handschriftenherstellung, Bibliotheksgebrauch, Münster 2018 (Erudiri Sapientia, 13.); Nuria de Castilla, François Déroche and Michael Friedrich (Hgg.), Libraries in the Manuscript Age, Berlin/Boston 2023, https://doi.org/10.1515/9783110779653.
2 Corinne Saunders/Diane Watts (Hg.), Women and Medieval Literary Culture. From the Early Middle Ages to the Fifteenth Century, Cambridge 2023.
3 So z. B. das Konsortium internationaler Bibliotheken zu europäischen königlichen Haushalten http://www.europeanaregia.eu/de (16.11.2023) oder zu Fürstenhäusern; vgl. Olivier Mattéoni (Hg.), Les Bourbons en leur bibliothèque (XIIIe-XVIe siècle), Paris 2022 (Histoire ancienne et médiévale); Jean-Michel Matz, La »bibliothèque« de René d’Anjou: un instrument de gouvernement?, in: Ders., Noël-Yves Tonerre (Hg.), René d’Anjou (1409–1480). Pouvoirs et gouvernement, Rennes 2011.
4 Hinweis zu den Vornamen der Autorinnen: die Publikation von Sara (laut Internetauftritt ihrer Uni) Fourcade gibt ihren Vornamen als »Sarah« wieder; ebenso sind alle Publikationen von S. C. Kaplan ausschließlich mit den Initialen versehen. In beiden Fällen werden in dieser Rezension die Druckversionen der Vornamen verwendet.
5 Überblick über die Datenbanken: https://www.irht.cnrs.fr/fr/ressources/base-de-donnees (16.11.2023).
6 Georges Doutrepont, La Littérature française à la cour des ducs de Bourgogne. Philippe le Hardi, Jean sans Peur, Paris 1909.
7 Books of Duchesses, https://booksofduchesses.com/ (16.11.2023). Die Teufelin steckt bekanntlich im Detail, so ist Isabeau de Bavière/Elisabeth von Bayern auf der Eingangsseite in München verortet (wo sie vermutlich geboren wurde), allerdings wird erst beim nächsten Klick auf ihre Karteikarte deutlich, dass die Buchsammlung sich größtenteils in Paris befand, wo sie Königin war, in deren Funktion ihr Buchumgang bekannt ist: https://booksofduchesses.com/owners/Isabeau%20of%20Bavaria,%20queen%20of%20France/ (16.11.2023).
8 Sara Fourcade, Lire et écrire au château à la fin du Moyen Âge: les espaces de l’étude dans les résidences de la noblesse laïque, in: Philippe Bragard, Jean-Marie Cauchies, Marie Henrion (Hg.), Lire, danser et chanter au château. La culture châtelaine, XIIIe–XVIIe siècles, Turnhout 2016, S. 75–90.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Vanina Kopp, Rezension von/compte rendu de: Sarah Fourcade, La Noblesse à la conquête du livre. France, v. 1300–v. 1530, Paris (Honoré Champion) 2021, 718 p. (Études d’histoire médiévale, 17), ISBN 978-2-7453-5591-1, EUR 95,00.; S. C. Kaplan, Women’s Libraries in Late Medieval Bourbonnais, Burgundy, and France. A Family Affair, Liverpool (Liverpool University Press) 2023, 384 p. (Exeter Studies in Medieval Europe), ISBN 978-1-80085-632-5, EUR 114,89., in: Francia-Recensio 2023/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.4.101286