Die Forschung zum beginnenden 12. Jahrhundert im Reich leidet seit vielen Jahren darunter, dass aktuelle Editionen zu den wichtigsten Werken dieser Zeit fehlen. Durch die unlängst erschienene Edition des »Codex Udalrici« konnte eine dieser Lücken geschlossen werden, doch stehen mit den Urkunden Heinrichs V. einerseits sowie andererseits mit den bisher Ekkehard von Aura zugesprochenen Fortsetzungen der Chronik Frutolfs von Michelsberg zwei weitere Neueditionen aus. Die Arbeiten an der Edition der Frutolf-Fortsetzungen scheinen jedoch zügig voranzugehen, aktuelle Fassungen der frühen Fortsetzungen Frutolfs sowie der so genannten anonymen »Kaiserchronik« sind online einzusehen1. Darüber hinaus hat Thomas J. H. McCarthy, einer der Bearbeiter dieser Neuedition, mit dem hier zu besprechenden Werk eine in Teilen neue Sicht auf diese Texte vorgelegt, welche die zukünftige Beschäftigung mit diesem Gegenstand entscheidend beeinflussen wird.
McCarthys Werk entstand im Rahmen des MGH-Projekts unter dem Titel »Bamberger Weltchronistik des 11./12. Jahrhunderts« und fußt auf ersten Überlegungen, die er bereits im Jahr 2014 in der Vorbemerkung zu seiner englischen Übersetzung der Chronik Frutolfs sowie ihren Fortsetzungen vorgelegt hat2. McCarthy setzt sich auf inhaltlicher, besonders aber paläografischer und stilkritischer Ebene mit den Fortsetzungen Frutolfs auseinander; auf das Ergebnis der Arbeit wird jedoch bereits in der Einleitung verwiesen: »We can no longer see the continuation in simple terms as being mostly the work of Ekkehard of Aura« (S. 8). McCarthy befasst sich neben der Person Ekkehards von Aura insbesondere mit den Schreibern, Handschriften und deren Überlieferungssituation und Quellen sowie mit stilistischen Kriterien. Deutlich wird sein durchgehend sehr gut begründetes Anliegen, insbesondere die bislang einschlägigen Arbeiten von Franz-Josef Schmale und Irene Schmale-Ott zu modifizieren; eine Absicht, die jedoch bisweilen das Ergebnis der Analyse vorwegzunehmen scheint. Hierfür wird dem Leser aufgrund der komplexen Verbindungen von verschiedenen Schreibern, Handschriften und weiteren Berührungspunkten untereinander jederzeit größtmögliche Aufmerksamkeit abverlangt (trotz zahlreicher Abbildungen), um den komplexen und vielschichtigen Gedankengängen McCarthys folgen zu können.
McCarthys Überlegungen nehmen ihren Ausgang in den bisherigen Forschungspositionen zu Frutolfs Chronik und ihren Fortsetzungen. Während Georg Heinrich Pertz und Georg Waitz noch davon ausgegangen waren, sowohl die Chronik selbst als auch ihre Fortsetzungen seien von Ekkehard verfasst worden, hatte Harry Bresslau Frutolf als Verfasser der ursprünglichen Chronik ermitteln können. Das Ehepaar Schmale schließlich etablierte die bisher jüngste Lehrmeinung zu den Fortsetzungen in mehreren Beiträgen (zusammengefasst auf S. 24–38), wobei sie sich in der Lage sahen, vier Fortsetzungen der Chronik Frutolfs zu identifizieren, die aus der Feder Ekkehards stammen sollten. Zwei dieser Fortsetzungen wären demnach auf 1106 zu datieren, eine weitere auf etwa 1116, eine letzte auf 1125. Hinzu kommt die von Irene Schmale-Ott als anonyme »Kaiserchronik« bezeichnete Fortsetzung aus der Mitte der 1110er Jahre, die jedoch nicht von Ekkehard verfasst worden sei.
McCarthy stellt diese Überlegungen nicht nur infrage, sondern er präsentiert nach paläografischen und stilkritischen Detailanalysen ein eigenes Schema der Fortsetzungen Frutolfs, für die jedoch Ekkehard von Aura nur noch einen kleinen Beitrag geleistet haben soll. Ohnehin seien bei genauerem Blick über die Person Ekkehards kaum gesicherte Informationen in Erfahrung zu bringen, wobei vor allem Abstand davon zu nehmen sei, in ihm einen ehemaligen Mönch des Klosters Michelsberg in Bamberg zu sehen (S. 39–80). Das Schema der Fortsetzungen stellt sich nunmehr so dar: Mithilfe hochauflösender Multispektralanalyse des Manuskriptes der Chronik Frutolfs kann der Verfasser nachweisen, dass diese ursprünglich nur bis zum Jahr 1098 reichte, es sich somit bei den folgenden drei Jahresberichten bis 1101 bereits um eine erste Fortsetzung handeln muss (S. 83–88).
Eine weitere Fortsetzung führt die Chronik bis 1106, wobei zwar drei unterschiedliche Schreiber anzunehmen seien, die stilistische Homogenität jedoch auf eine einzige Vorlage (evtl. Wachstafeln) eines einzigen Autors hindeute (S. 88–98, 186–212). Das Manuskript der so genannten anonymen »Kaiserchronik« wird ebenfalls neu bewertet. Eine Übereinstimmung zwischen Schreibern der Fortsetzung bis 1106 und der »Kaiserchronik« hatte bereits Bresslau angenommen, was von Schmale-Ott jedoch zurückgewiesen worden war. McCarthy stellt nunmehr deutlich heraus, dass die Haupthand dieser Fortsetzung gleichzusetzen sei mit der Haupthand der anonymen »Kaiserchronik« (S. 98–121). Überdies lassen stilkritische Anhaltspunkt annehmen, dass der Autor der Fortsetzung von 1106 mit dem der anonymen »Kaiserchronik« identisch und im Bamberger Kloster Michelsberg zu verorten sei (S. 212–223).
Diesen ersten beiden Fortsetzungen steht nun die gemäß McCarthy einzige tatsächlich von Ekkehard verfasste, bis ca. 1114 reichende und Abt Erkembert von Corvey gewidmete Fortsetzung gegenüber. Ein Abgleich der Fortsetzung Ekkehards mit der ebenfalls bis 1114 reichenden »Kaiserchronik« führt zu einer recht komplexen Sicht auf die Abhängigkeitsverhältnisse. Insgesamt ist McCarthy der Auffassung, dass die beiden Werke nicht voneinander beeinflusst sind, sondern vielmehr eine nunmehr verlorene Vorlage für beide Fortsetzungen existiert haben muss. Dieses mit der Sigle α bezeichnete Werk erschließt McCarthy aus den Gemeinsamkeiten zwischen »Kaiserchronik« und Ekkehard-Fortsetzung und schlussfolgert anhand dieser Passagen, dass auch α in Bamberg entstanden sein dürfte.
Und nicht nur das, einmal mehr ist McCarthy aufgrund stilkritischer Überlegungen davon überzeugt, dass es sich bei dem Autor von α (mutmaßlich eine Vorarbeit zur »Kaiserchronik«), der Fortsetzung von 1106 und der »Kaiserchronik« um ein und dieselbe Person handeln muss (S. 162–166, 212–223). Damit wäre Frutolf bis 1114 von einem Bamberger Autor weitergeführt worden, dessen Identität bedauerlicherweise verborgen bleiben muss. Auch die Abfassung der abschließenden Fortsetzung bis 1125 wird von McCarthy mit guten Gründen nach Bamberg auf den Michelsberg verortet (S. 223–232). Einmal mehr dienen stilkritische Aspekte als Anknüpfung an den Ort und teilweise auch an den Autor, wenngleich der Verfasser nicht so weit gehen möchte, einmal mehr den anonymen Autor der Fortsetzung von 1106, von α und der »Kaiserchronik« nun auch für die Fortsetzung von 1125 in Beschlag zu nehmen (S. 242). Ein Index der herangezogenen Manuskripte sowie ein Personen- und Ortsregister schließen den Band.
Das Werk stellt also eine nicht in allen Punkten genuin neue Bewertung der Fortsetzungen Frutolfs und der Person Ekkehards dar, zumal manche Überlegungen bereits von Pertz oder Waitz vorgenommen worden waren. Doch ist McCarthys Position gegenüber den bislang akzeptierten Revisionen dieser Überlegungen durch Schmale und Schmale-Ott von der Form und Methodik her durchaus neuartig und im Ergebnis radikal. McCarthys Argumente wissen durchgehend zu überzeugen, wenngleich paläografische und stilkritische Verfahren niemals allerletzte Sicherheit erbringen können. Dennoch werden die Überlegungen dieses Werks die Beschäftigung mit Frutolfs Fortsetzungen in den folgenden Jahren bestimmen und, so ist zu hoffen, deutlich beleben.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Matthias Weber, Rezension von/compte rendu de: Thomas J. H. McCarthy, The continuations of Frutolf of Michelsberg’s Chronicle, Wiesbaden (Harrassowitz Verlag) 2018, XVIII–257 p., 3 diagr., 25 ill. (Monumenta Germaniae Historica. Schriften, 74), ISBN 978-3-447-11061-7, EUR 55,00., in: Francia-Recensio 2019/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.1.59853