Hubertus Günther, Scamozzi kommentiert Serlio, RIHA Journal 0058

RIHA Journal 0058 | 13 November 2012 | Special Issue Scamozzi

Dieser Beitrag erscheint im Rahmen der Sonderausgabe "Vincenzo Scamozzi: Lektüren eines gelehrten Architekten". Die Sonderausgabe geht zurück auf das gleichnamige Kolloquium, das im Juni 2011 am Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München abgehalten wurde.


Scamozzi kommentiert Serlio

Hubertus Günther

Abstract

This article presents briefly the Serlio-copy of 1551 with the glosses of Scamozzi which the Ernst von Siemens Foundation has acquired for the library of the Zentralinstitut für Kunstgeschichte. A detailed commentary on it is in preparation. We present the realia of the volume and the glosses in the context of the other known glosses of Scamozzi and the editions of Serlio's books by Scamozzi, and indicate what the remarks contribute to our knowledge of Scamozzi's work. Then, with the Theatre of Marcellus as the main example, we focus on explaining the content of the glosses in relation to the studies of antiquity and architectural theory of Serlio and Scamozzi. In that way, new aspects of Scamozzi's studies and Venetian architectural theory as a whole, resulting from the glosses, come to the fore.

Inhalt


Einleitung

  1. In unserem Beitrag wird das Serlio-Exemplar mit den Randbemerkungen Vincenzo Scamozzis vorgestellt, das die Ernst von Siemens Kunststiftung für die Bibliothek des Zentralinstituts für Kunstgeschichte erworben hat.1 Dabei soll auch betrachtet werden, in welchen historischen Rahmen das Buch gehört und welche Gedanken hinter den Glossen stehen. Es handelt sich um die Ausgabe, die 1551 im Verlag Cornelio Nicolini in Venedig erschien. Sie trägt auf der Titelseite Scamozzis Exlibris (Abb. 1). Obwohl Scamozzi testamentarisch festgelegt hatte, dass seine Bibliothek zusammenbleiben sollte, wurde sie nach seinem Tod (1616) verstreut. Der französische Maler und Kunsttheoretiker Charles-Alphonse Du Fresnoy erwarb den Band, wie sein (später stark dezimiertes) Exlibris zeigt, und zwar vermutlich an dem Datum, das er unter seinem Exlibris notiert hat, am 7. Mai 1654. Damals hielt er sich in Venedig auf. Er wird das Buch, als er nach Paris zurückkehrte, mitgenommen haben. Wohl noch im 17. Jahrhundert wurde es beschnitten und neu gebunden; die Glossen Scamozzis und auch einige, die Du Fresnoy angefügt hat, wurden bei diesem Vorgang sorgsam ausgespart. Eine französische Notiz auf dem Deckblatt zeugt davon, dass das Buch spätestens im 19. Jahrhundert in Frankreich war. Die Pariser Librairie Bonnefoi bot es auf der Buchmesse im Grand Palais im April 2010 an, und von ihr hat es die Ernst von Siemens Kunststiftung erworben. Scamozzi hat Serlios Texte und Illustrationen teilweise kurz kommentiert, gelegentlich auch korrigiert oder ergänzt. Die Zuschreibung der Randbemerkungen ergibt sich durch den Charakter der Schriftzüge und durch eine Signatur. Inhaltliche Übereinstimmungen mit Scamozzis eigenen Werken bestätigen ihre Authentizität.

1 Sebastiano Serlio, Sammelausgabe von 1551 mit Scamozzis Glossen, Titel mit Exlibris Scamozzis. Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, 4° CA 255/505 Rarissima

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Scamozzi als Leser

  1. Zunächst sei kurz Scamozzis besonderes Verhältnis zu Büchern generell angesprochen. Scamozzi erhielt eine gediegene literarische Ausbildung, wie sie damals mehr für angehende Akademiker als für Architekten typisch war. Er studierte in seiner Jugend die römischen Ruinen und begann schon früh, auf ein Architekturtraktat hinzuarbeiten. Dafür verschlang er neben den einschlägigen Büchern eine Fülle antiker Literatur aus vielfältigen Bereichen, so viel wie vordem nur einige wenige Architekturtheoretiker der Renaissance, die humanistisch geschult waren, wie besonders Leon Battista Alberti. Scamozzi hat ein umfangreiches Manuskript hinterlassen, in dem sorgfältig zusammengestellt ist, was er aus den Schriften exzerpiert hat. Seine weitläufige Gelehrsamkeit kommt schon 1582 in den Discorsi sopra l'antichità di Roma zum Ausdruck; sie prägt das voluminöse und dennoch unvollendete Architekturtraktat, das er gegen Ende seines Lebens unter dem Titel "L'idea della architettura universale" publiziert hat. Scamozzi empfiehlt dort allen Architekten, sich ebenso umfassend wie er literarisch zu bilden und dabei, wie er selbst, eine Sammlung von Exzerpten anzulegen, die für den späteren Gebrauch gut geordnet sein soll.

  2. Scamozzi hat so viele Bücher zusammengetragen, wie es bei Künstlern oder Architekten sonst ganz selten dokumentiert ist. Etliche Bücher, die er besaß, sind bekannt. Sie geben sich, wie unser Serlio-Exemplar, durch Exlibris von Scamozzis eigener Hand zu erkennen (Abb. 2). Von früheren Künstlern hat sich so etwas, wenn überhaupt, nur sporadisch erhalten. Zu Scamozzis Bibliothek gehörten viele antike historische, geografische, mathematische oder lexikalische Werke, zudem die architekturtheoretischen Schriften der Renaissance, darunter einige Manuskripte, auch einschlägige Werke aus Mitteleuropa, soweit sie in Französisch abgefasst waren oder eine lateinische Version vorlag.

2 Daniele Barbaro, kommentierte Vitruv-Ausgabe von 1567, Titel mit Scamozzis Exlibris. Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, Microfiches Cicognara, 713/1-7

  1. Überdies sind mehrere Bücher erhalten, in die Scamozzi, wie in unser Serlio-Exemplar, hineingeschrieben hat. Ähnlich ausführlich hat er zwei Werke kommentiert: ein Exemplar von Daniele Barbaros kommentierter Vitruv-Ausgabe (1567), das mit Leopoldo Cicognaras Bibliothek in den Vatikan gelangt ist (Abb. 2), und die Giunta-Edition von Vasaris Viten (1568), die 1997 mit Giannalisa Feltrinellis Bibliothek versteigert wurde. In Lucio Faunos Romführer (1553) hat er einige wenige Anmerkungen geschrieben; in Guillaume Philandriers Vitruv-Kommentar (1544) hat er diverse Stellen unterstrichen. Zudem berichtet Tommaso Temanza (1773) von zwei Architekturtraktaten, die Scamozzi mit Glossen versehen hat: nämlich die lateinische Version des Säulenbuchs von Hans Blum (1550) und Giovanni Battista Bertanos Traktat über Vitruvs Beschreibung der ionischen Säulenordnung (1558). Temanza nahm die Anmerkungen so wichtig, dass er sie exzerpiert hat.

  2. Die Glossen passen ebenso wie die große Bibliothek und die ausgiebigen literarischen Studien mehr zu Humanisten als zu Architekten der Renaissance. Bei Architekten waren sie eine Ausnahme, bei Literaten waren sie üblich. Auch Angelo Poliziano oder Guillaume Budé haben Glossen in Vitruv-Exemplare geschrieben. Ein schönes Beispiel für eine Humanisten-Bibliothek ungefähr aus der Zeit Scamozzis mit vielen Glossen befindet sich geschlossen in München, in der Bayerischen Staatsbibliothek; es sind die Bücher des Florentiner Gelehrten Pietro Vettori (1499-1585).

3 Sebastiano Serlio, Tutte l'Opere d'Architettura, Scamozzis Ausgabe von 1584, Titel. Privatsammlung

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Scamozzis Glossen zu Serlio

  1. Die Glossen zu Serlio nehmen insofern eine besondere Stellung ein, als Scamozzi die erste vollständige Sammelausgabe von Serlios Traktat herausgegeben hat (Abb. 3). Sie erlebte drei Auflagen: 1584, dann jeweils mit minimalen Veränderungen 1600 und 1619 (nach Scamozzis Tod), alle im Verlag de' Franceschi in Venedig. Da zwei von ihnen im Reprint erschienen sind, bestimmen sie heute weithin die Kenntnis von Serlios Schriften. Serlios Bücher erschienen zunächst einzeln, beginnend in Venedig mit den beiden wichtigsten: 1537 mit dem sog. vierten Buch und 1540 mit dem dritten Buch; als Serlio nach Frankreich übergesiedelt war (1541), folgten in Paris 1545 das erste und zweite Buch und 1547 das fünfte Buch, 1551 in Lyon das "Libro extraordinario". Die Edition von 1551, in der Scamozzis Glossen stehen, bildet die erste Sammelausgabe von Serlios Werk. Sie umfasst die ersten fünf Bücher. Den folgenden Sammelausgaben war zudem das "Libro extraordinario" beigebunden. Sie erschienen ebenfalls in Venedig, im gleichen Verlag wie später Scamozzis Editionen: 1566 eine Edition im Quartformat statt in Folio wie alle bisherigen Editionen, 1568 und 1569 lateinische Übersetzungen wieder in Folio. Scamozzis Edition umfasst überdies das siebente Buch, das Jacopo Strada 1575 in Frankfurt herausgegeben hat. Sie ist wie die frühere Sammelausgabe im Verlag de' Franceschi auf Quartformat reduziert. Auch als Herausgeber von Serlios Traktat verhielt sich Scamozzi wie ein Literat. Architekten, die Werke ihrer Kollegen herausgegeben hätten, gab es damals kaum, außer sie waren ausnahmsweise in erster Linie Literaten. Gelehrte waren es, die Vitruv oder Albertis Architekturtraktat herausgaben.

  2. Was Scamozzi dazu bewog, Serlios Bücher herauszugeben, oder was er an ihnen besonders schätzte, hat er nicht festgehalten. Aber es ist offensichtlich, dass Serlio seine Bauten und seine Architekturtheorie beeinflusst hat. Zudem geht aus der Edition selbst hervor, dass schon Scamozzis Vater Giovan Domenico Vorbereitungen für sie getroffen hat. Er war ebenfalls Architekt oder, um diese seinerzeit mit hohen Ansprüchen belastete Bezeichnung zu vermeiden, Bauführer. Er ist nicht durch besondere künstlerische Qualifikation hervorgetreten, aber anscheinend interessierte er sich für Architekturtheorie und vermittelte seinem Sohn dies Interesse zusammen mit der gehobenen Schulung. Aus den Glossen geht hervor, was bisher nicht bekannt war, dass Giovan Domenico in seiner Jugend persönlichen Kontakt zu Serlio hatte; vielleicht war es Serlio, der sein Interesse an Architekturtheorie überhaupt erst weckte. Giovan Domenico war nämlich nur 15 Jahre alt, als Serlio Italien verließ.

  3. Scamozzis Serlio-Exemplar war wohl noch ein Erbstück von Giovan Domenico. Das vermute ich, weil Vincenzo erst drei Jahre alt war, als es erschien, und weil Serlios Bücher in dem Zeitraum zwischen dieser Edition und derjenigen Scamozzis mehrfach erneut herausgegeben wurden. Scamozzi redigierte leicht den Text seiner neuen Serlio-Ausgabe; ausgehend von den Gedanken seines Vaters erstellte er einen Index, keinen von der gewöhnlichen Art, sondern einen, der auch kommentiert, was Serlio sagt, und daher teilweise den Glossen gleicht. In der Auflage von 1600 fügte Scamozzi einen Diskurs seines Vaters über Architektur an, den er vermutlich nachträglich überarbeitet hat.

  4. Scamozzis Glossen konzentrieren sich auf die beiden Bücher Serlios, die wegweisend waren für die gesamte Renaissance: das vierte Buch, das die Säulenordnungen behandelt, und das dritte Buch, das den antiken Bauten gewidmet ist.

  5. Was Scamozzi über die Antikenaufnahmen Serlios dachte, zeigt eine Randbemerkung zu Serlios Angabe, er habe die Maße für das Theater in Pola von einem Fremden übernommen. Daraus zieht Scamozzi den Schluss: "Woraus man klar erkennt, dass Serlio weder diesen noch andere Bauten vermessen hat, sondern seine Zeichnungen von besonderen Personen hatte, wie mir mein seliger Vater versicherte, der ihn in seiner Jugend kannte." (Drittes Buch 1551, S. 52; Abb. 4)

4 Sebastiano Serlio, Sammelausgabe von 1551 mit Scamozzis Glossen, drittes Buch, Theater von Pola, Aufriss, 3-52-53. Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, 4° CA 255/505 Rarissima

  1. Der erste Teil der Glosse ist an sich nicht logisch. Er wirkt so, als habe ihn Scamozzi nur eingeführt, um auf das Zeugnis seines Vaters hinzuweisen, ähnlich wie er in einer anderen Bemerkung (drittes Buch, S. 96) ohne sachlichen Grund, einfach um auf die bessere Darstellung in einem eigenen Stich hinzuweisen, behauptet, Serlio habe die Diokletiansthermen nicht gesehen und achtlos eine fremde Vorlage kopiert (Abb. 27-28). Um so wichtiger ist Scamozzis Berufung auf die Versicherung seines Vaters, Serlio habe viele Illustrationen im dritten Buch nicht nach eigenen Zeichnungen, sondern nach Zeichnungen anderer Personen angefertigt. Das gleiche berichtet auch schon 1544 Guillaume Philandrier; es wird bestätigt im dritten Buch durch einige Verweise Serlios und durch den häufigen Wechsel von Maßeinheiten und Arten der Darstellung.

  2. Eine der Gruppen von Bauaufnahmen, die Serlio von fremder Hand übernommen hat, umfasst die Antiken in Pola und Verona (Abb. 4, 7, 8, 9, 26). Mit den fremden Vorlagen für die Darstellungen der Bauten in Pola, auf die sich Serlio ausdrücklich beruft, hängen die Darstellungen der Bauten in Verona wohl zusammen, weil sie in der gleichen Maßeinheit kotiert sind. Vielleicht hat Falconetto sie gezeichnet. Vasari bezieht sich nämlich offenbar auf Serlio, wenn er über Falconetto schreibt, er habe als erster die Theater und Amphitheater in Verona und Pola aufgenommen, und die Pläne von diesen Bauten, die man sehe, stammten von ihm und seien von anderen nach seinen Zeichnungen im Druck publiziert worden. Torello Sarayna warnt im Vorwort seines Traktats über die Antiken in Verona vor dem soeben, im gleichen Jahr, erschienenen dritten Buch: Dort sei Vieles in Bild und Wort falsch dargestellt, weil Serlio die Bauten in Verona nicht gesehen und nur unachtsam von fremden Vorlagen kopiert habe. Aber diese Behauptung widerspricht Serlios Angaben zur Arena in Verona, die von eigenen Untersuchungen zeugen. Sarayna geht es anscheinend darum, den Konkurrenten schlecht zu machen und Serlios abschätzige Meinung über die Bauten Veronas abzuwehren.

  3. Die Behauptung, dass Serlio die antiken Bauten, die er im dritten Buch vorstellt, nicht selbst vermessen habe, gehört in den gleichen Zusammenhang wie eine Glosse Scamozzis zu Vasaris Bericht, dass Baldassare Peruzzi ein Buch über die römischen Antiken und über Architekturtheorie begonnen habe. Scamozzi: "Dieses Buch ist vielleicht dasjenige, das jetzt unter dem Namen von Serlio publiziert wird." Serlio selbst weist in überspitzter Bescheidenheit das eigentliche Verdienst am vierten Buch Peruzzi zu. Daraufhin wurde ihm fälschlich nachgesagt, er habe mit seinem Traktat insgesamt Peruzzis Studien publiziert. Aber die Serlio-Glosse und ähnlich ein Nachtrag zum Index in der Serlio-Edition von 1619 halten mit Recht fest, dass sich Serlio auf Bauaufnahmen unterschiedlicher Provenienz stützte. Dieser Hinweis muss nicht abwertend gemeint gewesen sein. Antikenaufnahmen wurden damals generell oft kopiert oder ausgewertet für neue Pläne, letztlich ähnlich wie sich wissenschaftliche Studien auf ihre Vorgänger stützen. Viele solche Kopien sind bekannt, aber Scamozzi ist, soweit ich sehe, der einzige, der damals diese Praxis ausdrücklich angesprochen hat, und zwar als sinnvolles Vorgehen.

  4. Scamozzi hat sich nie, selbst nicht in seiner Serlio-Ausgabe, dazu durchgerungen, Serlios Verdienst zu würdigen. Wenn man seine Glossen immer wörtlich nehmen wollte, hätte er nicht einmal viel von Serlios intellektueller Kapazität gehalten. Zu Serlios Beschreibung der Säulenordnungen des Kolosseum etwa notiert er: "Serlio redet hier an der Sache vorbei. Er vermischt die generellen Dinge mit den Einzelheiten, wie er es immer tut." (Abb. 5) Scamozzis eigene Meinung über die Materie weicht aber nicht wesentlich von Serlios ab. In den Glossen und im Index zu Serlio beschwert sich Scamozzi mehrfach ähnlich respektlos über Werke Bramantes, obwohl Bramante als "Wegbereiter und Leuchte der modernen Architektur" galt. In den Glossen zu Vasari stellt er fest, an Albertis Fassade von S. Maria Novella sei "nichts Gutes" und Michelangelo verdanke seinen Ruhm ausschließlich seinen Bildwerken, seine Architektur verdiene nur Kritik. Selbst für sein großes Vorbild Palladio hat er wenig Lob über die Lippen gebracht. Scamozzis pauschale Aburteilung von Serlios Logik lässt sich mit zeitgenössischen Kommentaren zu Vitruv vergleichen. Es war seinerzeit durchaus verbreitet, schlecht über Vitruv zu reden, obwohl kaum jemand ernsthaft seine grundlegende Bedeutung für die Architekturtheorie bestritt. Wir werden noch sehen, dass Scamozzi in seinen Serlio-Glossen mit Vitruv ähnlich pauschal wie mit Serlio abrechnet. Jedenfalls verliert Serlio durch die Kritik wenig von seiner Bedeutung für Scamozzi. Vielmehr hält Scamozzi in den Glossen zu Barbaros Vitruv-Edition aufmerksam fest, was selbst dieses gelehrte Werk aus Serlios Büchern übernommen hat.

5 Sebastiano Serlio, Sammelausgabe von 1551 mit Scamozzis Glossen, drittes Buch, Kolosseum, Aufriss, 68-69. Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, 4° CA 255/505 Rarissima

  1. Serlio bezeichnet Geschichte und Funktion der Bauten ausdrücklich als unwichtig für sein Antikenbuch. Danach richtet sich Scamozzi in seinen Glossen. Er hält sein historisches Wissen hier weitgehend zurück, obwohl er zumindest die Romführer Marlianos und Faunos gut kannte, in den Discorsi seine Kenntnis römischer Geschichte demonstriert hatte, in der Idea mit überbordender Gelehrsamkeit weit hergeholte historische Zusammenhänge aufrollt und obwohl Serlio schon nach damaligem Stand des Wissens reichlich Anlass zu Korrekturen auf diesem Gebiet bot. Es gibt allerdings zwei Ausnahmen.

  2. Die eine Ausnahme ist durch Serlio bedingt. Am Ende des Antikenbuchs fügt er eine ausführliche historische Abhandlung ein, die auch einmal einen antiken Autor außer Vitruv in extenso zitiert, nämlich den damals berühmten Bericht des Diodorus Siculus über Alt-Ägypten, der schon das besondere Interesse Filaretes geweckt hatte. Mit diesem Anhang verbunden ist die Präsentation der Cheops-Pyramide und der Sphinx von Gizeh nach dem Bericht des Marco Grimani, der sie besucht und vermessen hatte (Abb. 6). An dieser Stelle demonstriert Scamozzi seine immense Bildung gewissermaßen in Konkurrenz zu Serlio (drittes Buch, S. 94). Er ergänzt Serlios Quellen, indem er die weitere antike Literatur zu den ägyptischen Monumenten zusammenstellt – Herodot, Plinius, Strabo, Pomponius Mela – und aus dem 1516 publizierten Bericht des Pietro Martire d'Anhiera über Ägypten zitiert, der auch in seiner Sammlung von Exzerpten erscheint. Seine genauen Angaben auch von Seitenzahlen ermöglichen teilweise zu bestimmen, welche Ausgaben Scamozzi hier benutzt hat.

6 Sebastiano Serlio, Sammelausgabe von 1551 mit Scamozzis Glossen, drittes Buch, Cheops-Pyramide und Sphinx von Gizeh, 3-94. Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, 4° CA 255/505 Rarissima

  1. Zudem kopiert Scamozzi die angebliche Gründungsinschrift der Arena von Verona, nach dem Kolosseum der größte und berühmteste Bau seiner Art (drittes Buch, S. 72; Abb. 7). Es handelt sich um eine Fälschung, die Leandro Alberti in seinem Italienführer 1550 in die Welt gesetzt hat. Aus ihr ergibt sich, dass die Arena 250 v. Chr. gestiftet worden sei. Um die gleiche Zeit muss in den Augen derer, die an die Fälschung glaubten, die Arena von Pola entstanden sein, denn sie gleicht, wie Serlio bereits herausstellt, derjenigen von Verona in den meisten Eigenheiten von Disposition, Dekor und Stil (Abb. 8-9). Demnach entstanden die beiden antiken Kolossalbauten im Hoheitsbereich von Venedig unglaublich früh, in der Zeit des ersten Punischen Krieges, als Rom erst begann, seine Herrschaft über Italien hinaus auszuweiten. Die frühesten erhaltenen Bauten, von denen man sonst wusste, stammen aus der Ära des Augustus. Die antike Literatur berichtet von gewaltigen Bauten schon aus dem früheren 1. Jahrhundert v. Chr. Aber aus der Zeit davor war kaum etwas bekannt außer dem phantastischen Grabmal des Etruskerkönigs Porsenna, das Plinius beschreibt, und der primitiven Holzkonstruktion, die Vitruv als typischen etruskischen Tempel behandelt (Abb. 10).

7 Sebastiano Serlio, Sammelausgabe von 1551 mit Scamozzis Glossen, drittes Buch, Arena von Verona, Grundriss, 3-72-73. Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, 4° CA 255/505 Rarissima

8 Sebastiano Serlio, Sammelausgabe von 1551 mit Scamozzis Glossen, drittes Buch, Arena von Verona, Aufriss, 3-75. Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, 4° CA 255/505 Rarissima

9 Sebastiano Serlio, Sammelausgabe von 1551 mit Scamozzis Glossen, drittes Buch, Arena von Pola, Aufriss, 3-79. Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, 4° CA 255/505 Rarissima

10 Daniele Barbaro, kommentierte Vitruv-Ausgabe von 1567, tuskischer Tempel, 196. Privatsammlung

  1. Anscheinend nahm man im Hoheitsbereich von Venedig an, dass die frühe Datierung der Arenen den Blick auf die ursprüngliche Architektur Italiens eröffne, das war in Scamozzis Augen diejenige der Etrusker. Bereits Serlio hatte im vierten Buch, ausgehend von Vitruv, eine eigenständige tuskische Säulenordnung präsentiert, die den griechischen Säulenordnungen gleichwertig ist, aber sie war von theoretischen Überlegungen statt vom Vorbild antiker Bauten geprägt (Abb. 11).

11 Sebastiano Serlio, Sammelausgabe von 1551 mit Scamozzis Glossen, viertes Buch, tuskische Säulenordnung, 4-6r. Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, 4° CA 255/505 Rarissima

  1. Trotzdem wurde sie sogleich von Vignola und den anderen mittelitalienischen Theoretikern, zudem schon seit 1550 nördlich der Alpen rezipiert. Sie blieb für die folgenden Jahrhunderte und manchmal bis heute maßgeblich – allerdings, Venedig und das Veneto machten eine Ausnahme: Palladio und Scamozzi hielten sich nämlich nicht an Serlios theoretische Version, sondern gestalteten die tuskische Säulenordnung da, wo Vitruv nicht weiterhilft, nach dem Vorbild der Arenen von Verona und Pola (Abb. 12-13, vgl. 8-9). Scamozzis Kopie der gefälschten Gründungsinschrift liefert nun den Schlüssel zu ihrem geistigen Hintergrund. Die frühe Datierung, die sich aus ihr ergibt, bildete anscheinend die historische Grundlage für die besondere Gestaltung der tuskischen Ordnung bei Palladio und Scamozzi: Durch die Inschrift ergab sich in ihren Augen, dass die Bauten, die die ursprüngliche, etruskische Tradition Italiens am deutlichsten fortsetzen, im Hoheitsbereich von Venedig stehen.

12 Andrea Palladio, I quattro libri dell'architettura, 1570, erstes Buch, tuskische Säulenordnung, 1-21. Privatsammlung

13 Vincenzo Scamozzi, L'idea della architettura universale, Venedig 1615, sechstes Buch, tuskische Säulenordnung, Kapitell und Gebälk, 6-68. Zentralbibliothek – Alte Drucke, Zürich, T 80 | F

  1. Hier tut sich einmal mehr die Sonderstellung auf, die Venedig gegenüber Rom beanspruchte, in der Architektur ebenso wie politisch. Bei aufmerksamer Lektüre merkt man, dass sich in der Legende des dritten Buchs zur Arena von Pola eine recht polemische Diskussion niedergeschlagen hat, die anscheinend im Hintergrund geführt wurde. Dort wird das Kolosseum so schlecht wie nur irgend möglich gemacht (vgl. Abb. 5, 9). Es heißt, es gleiche im Stil so deutlich der ständig geschmähten "maniera tedesca", dass man annehmen müsse, es sei von einem "Deutschen" bzw. Germanen gebaut worden. Es war damals aus Tacitus gut bekannt, dass die Germanen, als das Kolosseum entstand, noch in primitiven Hütten zwischen Wäldern verstreut hausten. Scamozzi weist im Serlio-Index auch noch eigens darauf hin, dass Serlio die exzentrische Zuschreibung des Kolosseum an einen Deutschen vertrete. Aber es war nicht wirklich Serlios Meinung. Erst nachdem Serlio Venedig verlassen hatte, fügte der venezianische Verleger diese groteske Lästerung – denn mehr ist es nicht – in den Text der zweiten Auflage des dritten Buchs (1544) ein, und dort blieb sie in den späteren Editionen einschließlich derjenigen Scamozzis. Serlio urteilt in der Erstausgabe eher umgekehrt. Aus der Warte des mittelitalienischen Klassizisten hat er an allen Antiken in Verona etwas auszusetzen; die Porta dei Borsari findet er zu "barbarisch", um sie überhaupt ins dritte Buch aufzunehmen; bei der Arena von Pola steigert er sich zu dem überzogenen Ausfall, sie gleiche im Stil so deutlich der "maniera tedesca", dass man annehmen müsse, sie sei von einem "Deutschen" gebaut worden. Mit dem Hinweis auf die Ähnlichkeit überträgt er diese Herabsetzung auf die Arena von Verona, den ganzen Stolz der Veroneser und überhaupt der Heimat Scamozzis. Diese Kränkung wurde durch die Veränderung des Textes in Spott auf den Hochmut der mittelitalienischen Rechthaber verwandelt.

  2. Im Übrigen konzentrieren sich Scamozzis Anmerkungen vorwiegend auf das, worum es Serlio eigentlich geht, auf die formalen Aspekte der Architektur. Serlios Antikenbuch gehört ebenso wie sein Säulenbuch in den architekturtheoretischen Bereich. Denn Serlio will im Antikenbuch nicht nur einzelne Bauten vorstellen, sondern, wie er immer wieder betont, auch dazu anleiten, zwischen guter und schlechter Architektur zu unterscheiden, damit nur das von der Antike übernommen werde, was wirklich angemessen sei. Diese Absicht hat Scamozzi in der Idea von Serlio übernommen und bekräftigt sie auch seinerseits mehrfach mit ähnlichen Worten wie Serlio. Was angemessen sein soll, ergibt sich, wie Scamozzi ebenfalls von Serlio übernimmt, aus der "architektonischen Ratio". Aber bei der Bestimmung dessen, was die architektonische Ratio ausmachen soll, gehen die Meinungen auseinander. Für Serlio gibt Vitruv die Ratio wieder. Vignola nimmt daraufhin in seiner Säulenlehre die entgegengesetzte Position ein: Er erklärt die antiken Bauten für maßgeblich. Scamozzi vertritt ähnlich wie Palladio eine vermittelnde Position. Er meint, man brauche Vitruv und die antike Architektur, um die Ratio zu erfassen.

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Die Kommentare zum Marcellustheater

  1. Ich greife jetzt einige von den Glossen heraus, um zu zeigen, wie auch in ihnen, obwohl sie sich vordergründig harmlos anhören mögen, weite gedankliche Zusammenhänge anklingen. Wir gehen Scamozzis Kommentare zum Marcellustheater durch (drittes Buch, S. 46; Abb. 14, vgl. Abb. 15-16).

14 Sebastiano Serlio, Sammelausgabe von 1551 mit Scamozzis Glossen, drittes Buch, Marcellustheater, Grundriss, 3-46-47. Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, 4° CA 255/505 Rarissima

15 Sebastiano Serlio, Sammelausgabe von 1551 mit Scamozzis Glossen, drittes Buch, Marcellustheater, Aufriss, 3-48-49. Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, 4° CA 255/505 Rarissima

16 Marcellustheater, dorische Arkade, heutiger Zustand

  1. Das Marcellustheater zog in der Renaissance besonderes Interesse auf sich. Einer der Gründe dafür war, dass es das beste Beispiel bildete für die sonst nur noch selten erhaltene dorische und ionische Säulenordnung. Deshalb behandelt Serlio hier die Säulenordnungen ausführlich und gibt eine dezidierte Grundsatzerklärung zu seiner Lehrmeinung ab. Darauf reagiert Scamozzi. Seine grundsätzliche Einstellung kommt in Urteilen zum Ausdruck, die heute etwas minimalistisch wirken mögen, aber charakteristisch sind für die Architekturtheorie der Renaissance und, wie ich meine, sogar für die Geisteshaltung der Renaissance im Ganzen. Wir gehen nun auf Scamozzis Argumente ein.

  2. Wir beginnen mit der Glosse zum dorischen Gebälk: "Vitruv macht das Gesims sehr schwach und dürftig an Gliedern; dafür lobt ihn Serlio, der diese Manier mag." Das klingt, als würde nur ein kleiner Geschmacksunterschied notiert. Das Gesims, das sich aus Vitruvs Beschreibung des dorischen Gebälks ergibt, wirkt wirklich etwas mager (vgl. Abb. 17). Aber Scamozzi bezieht sich auch auf die grundlegende Differenz in der Bewertung dessen, was für die Bestimmung des Guten und Schlechten maßgeblich sein soll. Etwas weiter unten hält er Serlios Versicherung, Vitruv sei die höchste Autorität, ebenso apodiktisch entgegen: "Die Ratio muß schwerer wiegen als alle Autoritäten und antiken Bauten."

17 Daniele Barbaro, kommentierte Vitruv-Ausgabe von 1567, dorisches Gebälk, 148. Privatsammlung

18 Sebastiano Serlio, Sammelausgabe von 1551 mit Scamozzis Glossen, viertes Buch, dorisches Gebälk des Marcellustheaters, 4-20r. Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, 4° CA 255/505 Rarissima

19 Sebastiano Serlio, Sammelausgabe von 1551 mit Scamozzis Glossen, viertes Buch, dorisches Gebälk, 4-18v. Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, 4° CA 255/505 Rarissima

  1. Serlio meint, die Gliederung des Marcellustheaters sei ausnehmend gut gearbeitet und stimme bestens mit Vitruv überein – mit Ausnahmen allerdings. Vitruv hat ausdrücklich festgelegt, dass im Gesims des dorischen Gebälks kein Zahnschnitt angebracht sei. Das Marcellustheater hält sich nicht an diese Richtlinie (Abb. 18). Trotz aller Qualität der übrigen Gliederung wertet Serlio die Abweichung von Vitruv auch hier als einen Fehler, den man auf keinen Fall nachahmen dürfe (Abb. 19). Warum ist er so kategorisch?

  2. Vitruv leitet die Säulenordnungen vom Holzbau ab, und das wurde für die Renaissance im Zusammenhang mit der Ableitung aller Künste von der Natur zur theoretischen Grundlage für die Architektur. Für das Gebälk ergibt sich: Architrave entstanden aus den Querbalken über den Säulen, Triglyphen aus den Balken der Decke darüber, Konsolen im Gesims aus den Dachbalken, der Zahnschnitt aus den Latten darüber. Natürlich darf daher der Zahnschnitt, wie Serlio immer wieder betont, nicht unterhalb von Konsolen angebracht werden. Theoretisch ist er höchstens darüber denkbar, wie Giovanni Antonio Rusconi in seiner Architettura secondo i precetti di Vitruvio 1590 darstellt (Abb. 20), aber so eine Disposition kam in der Praxis nicht vor. Trotzdem war Zahnschnitt unter Konsolen ein ganz häufiges Motiv an antiken Gebälken (Abb. 21), und das wurde oft in der Renaissance nachgeahmt; um ein prominentes Beispiel dafür in Venedig zu nennen: von Jacopo Sansovino an der Libreria Marciana (Abb. 22).

20 Giovanni Antonio Rusconi, Della architettura secondo i precetti di Vitruvio, 1590, Ableitung des Gebälks vom Holzbau. Privatsammlung

21 Sebastiano Serlio, Sammelausgabe von 1551 mit Scamozzis Glossen, drittes Buch, Titusbogen, Gebälk mit Zahnschnitt unter Konsolen, 3-107. Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, 4° CA 255/505 Rarissima

22 Libreria Marciana, Venedig, Gliederung, Jacopo Sansovino, heutiger Zustand

  1. Scamozzi hält die Ableitung vom Holzbau ebenso wie Serlio für die Ultima Ratio der Architektur. Deshalb nimmt auch er sie wichtiger als die antike Architektur und lehnt in seiner Säulenlehre wie Serlio Zahnschnitt unter Konsolen ab (Abb. 23).

23 Vincenzo Scamozzi, L'idea della architettura universale, Venedig 1615, sechstes Buch, korinthisches Gebälk 6-138. Zentralbibliothek – Alte Drucke, Zürich, T 80 | F

  1. Warum der Zahnschnitt aber im dorischen Gebälk nicht angebracht sein soll, das geht aus Vitruvs Ableitung vom Holzbau nicht schlüssig hervor. Im Gegenteil, da hat er nach eben dieser Argumentation einen guten Sinn. Offenbar aus diesem Grund hält sich Scamozzi in diesem Punkt nicht an Vitruv, sondern an das Marcellustheater und übernimmt den Zahnschnitt im dorischen Gesims (Abb. 24). Darauf bezieht sich die Notiz: "Vitruv macht das Gesims sehr schwach und dürftig an Gliedern [...]."

24 Vincenzo Scamozzi, L'idea della architettura universale, Venedig 1615, sechstes Buch, dorisches Gebälk 6-84. Zentralbibliothek – Alte Drucke, Zürich, T 80 | F

  1. Scamozzi hat noch viel an Vitruvs Angaben zu den Gebälken auszusetzen, daher sagt er pauschal zu der folgenden Direktive Serlios, man müsse sich generell an die Proportionen halten, die Vitruv für das Gebälk festlegt: "Vitruv hat überhaupt keine Formen von Gesimsen und den übrigen (Teilen von) Gebälken beschrieben, die man guten Stil nennen könnte; aber so spricht er ja immer über die Sachen." In der Idea führt Scamozzi im Einzelnen aus, was er an Vitruvs Beschreibung von Gebälken für unangemessen hält.

  2. In Scamozzis Augen ist Vitruv nicht nur deshalb mangelhaft, weil er sich nicht konsequent an die Ratio hält, sondern auch weil er unvollständig ist. Das berührt Serlios Angabe, besonders die Kapitelle und Kämpfer im Erdgeschoß des Marcellustheaters würden mit Vitruv übereinstimmen (vgl. Abb. 15-16). Hier redet Serlio wirklich, wie Scamozzi will, an der Sache vorbei. Die Kapitelle weichen von Vitruv ab; Serlio rät im vierten Buch selbst, ausnahmsweise die dorischen Kapitelle wie am Marcellustheater statt wie bei Vitruv zu gestalten. Diese Unstimmigkeit übergeht Scamozzi, aber er korrigiert: "Vitruv schreibt weder über Kämpfer noch über andere Elemente von Arkaden." Das ist richtig, Vitruv schreibt wirklich nichts darüber. Und dieser Mangel war für die Renaissance gravierend, denn Arkaden waren damals ein wesentliches Element der Architektur, viel wichtiger als die Portiken mit freistehenden Säulen, die Vitruv ausführlich behandelt. Seit Vignola wurde die Lücke, die Vitruv hier offen lässt, in der Säulenlehre gewöhnlich gefüllt, auch von Scamozzi. Ebenso wurden andere Teile ergänzt, die bei Vitruv fehlen, aber inzwischen unabdingbar waren, so neben dem Gebälk der tuskischen Säulenordnung besonders die Piedestale. Die tuskische Ordnung haben wir bereits angesprochen; zu den Piedestalen nimmt Scamozzi in einer Randnotiz zum vierten Buch Stellung (viertes Buch, fol. 6r). Aber wir bleiben jetzt bei unserer Seite vom Marcellustheater.

  3. Die antiken Bauten statt Vitruv zum Vorbild zu nehmen, war auch nicht unproblematisch. Für die Renaissance, Scamozzi eingeschlossen, wies das Marcellustheater bei aller Qualität seiner Gliederung unabweisbar zumindest einen Fehler auf: den dorischen Säulen fehlen Basen (Abb. 15-16). Alle Säulen brauchten in der Renaissance Basen. Das Fehlen der Basen erklärt Scamozzi dadurch, dass in der römischen Architektur Spolien von fremden Bauten eingesetzt wurden. Dieses Phänomen war damals gut bekannt. Serlio bewertete es negativ. Er bezog es auf Spolien von römischen Bauten und brachte es in Zusammenhang mit flüchtig errichteten Bauten und Architektur aus der Zeit des Verfalls der Architektur. Scamozzi geht dagegen von den antiken Berichten aus, nach denen die Römer, als sie Griechenland erobert hatten, alles, was ihnen gefiel, fort trugen und nach Italien brachten. Die alten Autoren meinten besonders Bildwerke, aber er überträgt diese Nachricht auch auf Architekturglieder und nimmt dann an, die Römer hätten die geraubten griechischen Spolien in ihre Bauten eingesetzt. Diese Theorie legt er in seinem Architekturtraktat dar. Beim Marcellustheater sieht man, wie er sie bei einzelnen Bauten einsetzt. Zu Serlios Feststellung, dass die Basen fehlen, bemerkt er: "vielleicht weil es (das Marcellustheater) aus Spolien gemacht wurde". Dementsprechend entschuldigt er die schlechten, von Vitruv abweichenden Antiken, vor deren Nachahmung Serlio anschließend generell warnt: "Der Grund dafür, dass einige Elemente der Bauten unförmig sind, ist, weil sie aus den Spolien von anderen Bauten zusammengesetzt wurden."

  4. Wir sind noch nicht zu Ende mit unserer Seite. Serlio schwärmt da von den "wunderbaren Werken der Griechen, die fast alle ausgelöscht und zerstört sind", wer sie sehen könnte, würde sicher "urteilen, dass die griechischen Sachen die römischen bei Weitem überragen". Scamozzi kommentiert trocken: "Da die Werke der Griechen nicht mehr existieren, kann man sie nicht mit denjenigen der Römer vergleichen oder höher schätzen als sie." Das ist logisch. Auch wenn der Parthenon damals noch völlig erhalten aufrecht stand, war damals im Westen so gut wie nichts von der griechischen Architektur aus eigener Anschauung bekannt. Nur angesichts der eindrucksvollen antiken Berichte über griechische Bauten kann man Serlios Erwartung nachfühlen.

  5. Scamozzi betreibt hier aber nicht pure Kasuistik. Es geht um ein tieferes Problem, nämlich darum, wie man entweder die Priorität Vitruvs vor den antiken Bauten oder die Priorität der antiken Bauten vor Vitruv begründet. Diese Frage ist grundlegend für das ganze Gebiet, das wir eben durchgenommen haben, und wurde über die ganze Renaissance hinweg kontrovers behandelt. Serlio begründet die Priorität Vitruvs mit dem großartigen griechischen Erbe, das Vitruv in seiner Architekturtheorie verarbeitet habe, und mit der Überzeugung, dass die Architektur ebenso wie nach damaliger Auffassung die bildenden Künste im Lauf der Kaiserzeit, also nach Vitruv, allmählich an Qualität verloren habe. Das spricht Serlio in seinen Erklärungen zum Marcellustheater an, und dagegen wendet sich Scamozzi in seiner Glosse. Er nimmt eine umgekehrte Entwicklung der Architektur an: Sie wurde, wie man allgemein annahm, im nahen Osten, in Ägypten und Babylon geboren und blühte dann in Griechenland jugendlich auf, aber erst bei den Römern, in der Blüte der Republik und unter den "guten Kaisern", wie er sagt, wurde sie allmählich erwachsen. Daraus folgt: Sie hatte unter den Griechen noch nicht das Niveau Vitruvs erreicht und gelangte erst nach Vitruv zu ihrer vollen künstlerischen Reife. Die Ratio kommt in den römischen Bauten besser zum Ausdruck als bei Vitruv, weil die prominentesten von ihnen nach Vitruv entstanden. Diese Version der Entwicklung hält Scamozzi Serlio im Index entgegen. Das Argument der eingesetzten Spolien bekräftigte sie. Denn mit ihm ließ sich, wenn die nach Vitruv entstandene Architektur doch einmal Mängel aufwies, die Schuld daran den Griechen zuweisen. Zudem hat Scamozzi, soweit ich weiß, als einziger in der Renaissance zur Sprache gebracht, wie viel Vitruv von der antiken Architektur noch nicht kennen konnte. In den Glossen zu Barbaros Vitruv-Edition und zu Bertano weist er darauf hin, dass Vitruv anscheinend nicht einmal mehr den Bau des Pantheon erlebt habe. So begründet er, dass Vitruv nichts in der Art des Pantheon berücksichtigt, obwohl es in den Augen der Renaissance als Höhepunkt der römischen Architektur erschien. Durch den weiteren Aufstieg der Architektur in der Zeit nach Vitruv erklärt sich für ihn, dass ein so idealer Bau wie das Pantheon in seiner Gliederung von Vitruv abweicht. Diese damals oft beobachtete und viel diskutierte Abweichung spricht auch Serlio an. Scamozzi kommentiert, was Serlio dazu sagt, im Index und in den Glossen.

  6. Jetzt gehen wir zu einem anderen Aspekt des Marcellustheaters über. Das Marcellustheater fand auch deshalb viel Beachtung in der Renaissance, weil es zeigt, wie ein römisches Theater aussah, und weitgehend Vitruvs Beschreibung des römischen Theaters bestätigt (Abb. 14). Scamozzi hat sich besonders für Schauspielhäuser interessiert. Davon zeugt vor allem ein Entwurf von ihm für das geplante vierte Buch der Idea über Schauspielhäuser, der in einer Abschrift überliefert ist (Vincenza, Biblioteca Bertoliana, Ms. 3314). Übereinstimmungen mit den Randnotizen zu Serlio räumen jetzt alle Zweifel an der Authentizität dieser Kopie aus. Die Schrift konzentriert sich auf die Entwicklung der Schauspielhäuser, auf die historischen Umstände des Marcellustheaters und des Kolosseum, auf ihre Funktion und auf Vitruvs Abhandlung über Theater. Das Kolosseum ist schon in den Discorsi sopra l'antichità di Roma ausführlich behandelt.

  7. In den Discorsi und im Serlio-Index geht Scamozzi darauf ein, wie die Zuschauer nach ihren sozialen Rängen verteilt waren. Zudem ist er daran interessiert, wie viel Platz für die Zuschauer zur Verfügung stand. In der Idea stellt er zusammen, wie viele Zuschauer die Schauspielhäuser nach den Angaben der antiken Literatur fassten. Im Entwurf für das vierte Buch der Idea kalkuliert er eigenständig auf der Basis von Berechnungen der Fläche, die für Sitzplätze zur Verfügung stand, wie viele Zuschauer ins Kolosseum passen könnten, und vergleicht das Ergebnis mit den Angaben in der antiken Literatur. Eine solche Kalkulation notiert er in unserem Serlio-Exemplar auch für das Marcellustheater (drittes Buch, S. 47; Abb. 14): Er berechnet aus dem Durchmesser, wie groß die Grundfläche war. Den Inhalt der Grundfläche teilt er durch die Menge der Zuschauer, die im antiken Regionenkatalog angegeben ist (damals Publius Victor zugeschrieben). Fazit, im Konditional: "Das ergäbe weniger als 2 [Quadrat]Fuß für einen [Zuschauer]." Knapp zwei Quadratfuß erscheint mir wenig für einen Sitzplatz. Aber Sarayna führt in seinem Traktat über die Antiken in Verona eine ähnliche Berechnung für die Arena dort auf der Basis der Annahme durch, dass 1 ½ Fuß Breite für einen Zuschauer reiche. Scamozzi bleibt in der Idea und in seinem Entwurf für deren viertes Buch bei der Menge von Zuschauern, die im Regionenkatalog angegeben ist. Heute nimmt man an, dass die Zahl beträchtlich übertrieben ist. Jedenfalls gleicht die Art, wie Scamozzi hier kulturhistorisch wichtige Werte kritisch prüft, im Prinzip bereits der Methode moderner Archäologie. Mit einer ähnlichen Berechnung zeigt Scamozzi in einer Glosse zu Barbaros Vitruv-Kommentar, dass die rein sprachlich ausgerichtete Deutung eines Passus wegen der Maßverhältnisse, die sich daraus ergeben würden, praktisch ausgeschlossen sei.

  8. Die Frage nach der Menge der Zuschauer hängt auch mit der Rekonstruktion des Aufrisses zusammen. Zu Scamozzis Abhandlung über Schauspielhäuser gehörten angeblich Abbildungen des Marcellustheaters und des Kolosseum. Im Serlio-Index und schon zwei Jahre zuvor in seinen Discorsi verweist Scamozzi auf eine eigene Darstellung des Kolosseum, aus der hervorgehen soll, wie das oberste Geschoß ursprünglich innen aussah. Die Darstellung ist verloren, aber unser Serlio-Exemplar gibt eine gewisse Vorstellung von ihr. Scamozzi rekonstruiert in Serlios Querschnitt des Kolosseum über den erhaltenen Sitzstufen eine weitere Sektion von ihnen (drittes Buch, S. 66f.; Abb. 25): die Linien ABC bzw. DE. Dazu schreibt er: "Die Linie ABC oder DE, wo die obersten Stufen für die Plebs gewesen sein könnten, und vielleicht waren sie aus Holz, um nicht viel zu beschweren, wie auch der obere Teil des Circus Maximus war; dafür spricht auch, dass die innere Mauer nur 3 ¼ Fuß [gut 1 m] hoch und der Abstand zwischen den Mauern 32 Fuß [ca. 10 m] weit ist." Die Gründe sind plausibel (vgl. Abb. 26). Die modernen Archäologen stimmen deshalb mit der Rekonstruktion einer oberen Sektion von Stufen aus Holz generell überein.

25 Sebastiano Serlio, Sammelausgabe von 1551 mit Scamozzis Glossen, drittes Buch, Kolosseum, Querschnitt, 3-66-67. Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, 4° CA 255/505 Rarissima

26 Kolosseum, erhaltene Teile der Cavea im Querschnitt, in: Antoine Desgodetz, Les édifices antiques de Rome, 1682. Privatsammlung

  1. Schließlich führen die Anmerkungen zu den beiden Schauspielhäusern noch darauf, wie konkret Scamozzi antike Bauten untersucht hat. Das Marcellustheater war durch die Residenz der Savelli schon damals wie heute überbaut. Serlio bildet eine vollständige Rekonstruktion des Grundrisses ab (Abb. 14). Sie wurde auf Grund der genauen Untersuchungen für den Romplan Papst Leos X. erstellt und hat bis heute Bestand. Trotzdem bemerkt Scamozzi: "In Wahrheit kann man den Plan schwer verstehen; wir konnten ihn mit Mühe (selbst) aufnehmen, indem wir uns dessen bedienten, was man in den Kellern der Illustrissimi signori Savelli sieht." (Drittes Buch, S. 46) Auch an anderen Stellen hebt er seine eigenen Studien zur Rekonstruktion des Theaters hervor.

  2. Die Maße, die Scamozzi für seine Berechnung zum Marcellustheater benutzt, stimmen nicht mit denjenigen Serlios überein. Zu Serlios Aufriss des Kolosseum ergänzt Scamozzi einige fehlende Maße (Abb. 5). Auch in seiner Abhandlung über Schauspielhäuser gibt Scamozzi Maße für das Kolosseum an. Diese Angaben mögen auf eigene Vermessungen zurückgehen.

27 Sebastiano Serlio, Sammelausgabe von 1551 mit Scamozzis Glossen, drittes Buch, Arco dei Gavi, 3-130-131. Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, 4° CA 255/505 Rarissima

  1. In Serlios Abbildungen des Arco dei Gavi in Verona trägt Scamozzi außergewöhnlich viele Maße ein (drittes Buch, S. 130f.; Abb. 27). Aber sie sind nicht eigenständig ermittelt, sondern aus Serlios Text übernommen, nur umgerechnet von den üblichen Teileinheiten in Brüche der Maßeinheit des Veroneser Fußes. Vermutlich sollte die umständliche Prozedur der Umrechnung dazu dienen, die Proportionen zu ermitteln, und dieser Schritt sollte wohl zur Klärung der Zuschreibung des Bogens beitragen. Aufgrund einer Inschrift wurde der Architekt des Arco dei Gavi nämlich manchmal mit Vitruv identifiziert, dem elementaren Theoretiker. Serlio führt bereits ein formales Argument dagegen an, das Scamozzis Einstellung entsprach. Im Index stellt Scamozzi mehrfach fest, dass auch er die Zuschreibung an den Theoretiker Vitruv für falsch halte.

  2. Worauf ich hier aber eigentlich hinaus will: Obwohl Verona nah bei Vicenza liegt und obwohl er doch besonderes Interesse am Arco dei Gavi zeigt, hatte Scamozzi anscheinend keine eigenen Maße von ihm. Außer bei den beiden römischen Schauspielhäusern ergänzt Scamozzi Serlios Maßangaben nicht. Sonst gibt es, soweit ich sehe, keine konkreten Zeugnisse für eigenständige Vermessungen Scamozzis.

  3. Scamozzi korrigiert nur einmal Serlios Illustrationen, und das gibt ihm gleich wieder Gelegenheit, auf eine eigene Bauaufnahme zu verweisen: Zum Grundriss der Diokletiansthermen notiert er stolz: "Serlio zeigt deutlich, dass er diesen Bau nicht gesehen hat, denn der Teil AB ist größer als derjenige CD, wie wir in der Darstellung gezeigt haben, die 1579 in Rom gedruckt wurde. Vicenzo Scamozzi architetto." (Drittes Buch, S. 96; Abb. 28) Diese Darstellung ist erhalten (Abb. 29). Scamozzi verweist auf sie auch in den Discorsi zusammen mit einem Stich der Caracallathermen, der verschollen ist. Der Stich der Diokletiansthermen bietet eine vorzügliche Rekonstruktion; er übertrifft die anderen zeitgenössischen Illustrationen dieser Art, speziell Pirro Ligorios und sogar Palladios.

28 Sebastiano Serlio, Sammelausgabe von 1551 mit Scamozzis Glossen, drittes Buch, Diokletiansthermen, Grundriss, 3-96-97. Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, 4° CA 255/505 Rarissima

29 Vincenzo Scamozzi, Diokletiansthermen, Kupferstich, 1580. Nach: Vincenzo Scamozzi 1548-1616, Ausst.kat. Centro Internazionale di Studi di Architettura Andrea Palladio (CISA), hg. von Franco Barbieri und Guido Beltramini, Venedig 2003

  1. Die wenigen eigenen Antikenaufnahmen, die Scamozzi bei Serlio anspricht, sind auch sonst belegt. Darüber hinaus sind keine eigenen Antikenaufnahmen Scamozzis erhalten oder nachgewiesen. Ich habe den Eindruck, es gab auch nicht viel mehr davon. Scamozzi hat sicher die Ruinen angesehen und untersucht, aber richtig aufgenommen mit Maßen hat er anscheinend nur wenige. In der Idea erklärt er, er habe die bedeutendsten Antiken im eigenen Beisein vermessen lassen, also nicht selbst vermessen: Der handwerkliche Aspekt einer solchen Tätigkeit passte schlecht zu seiner Vorstellung vom Architekten primär als Denker und Planer. Er zog wohl wie Serlio fremde Bauaufnahmen heran, besonders eben die von Serlio publizierten. Statt zu vermessen, konzentrierte sich Scamozzi darauf, aus allen möglichen Schriften Material zu den antiken Bauten zu sammeln, um ihre Gestaltung, Funktion und historischen Umstände zu untersuchen. Er wetterte gegen diejenigen, "die Bündel von Antikenzeichnungen anlegen, entweder von eigener Hand oder von sonst wem gemacht, ohne irgendwelche Beobachtung, oder jene anderen, die sie erst groß sammeln und sie dann geschlossen halten, ohne sie im mindesten zu studieren, quasi als reichte der Name des Baus oder sein Ort, und man bräuchte sich nicht darum zu kümmern, das Ingenium des Architekten kennenzulernen".

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Zur Funktion der Glossen

  1. Abschließend sei die Frage aufgeworfen, wofür die Randnotizen eigentlich bestimmt waren. Wir berühren damit ein weites Gebiet, dessen Geschichte bis zu den antiken Scholien, Rechtsglossen und mittelalterlichen Glossarien zurückreicht. Für die Bestimmung der Glossen in Büchern der Renaissance kann ich kein generelles Urteil abgeben. Manche wirken wie private Notizen, gelegentlich sind sie derart konzise, dass sie von einem späteren Besitzer ausdrücklich als hilfreich für das Verständnis des Textes bezeichnet worden sind; bei einigen sind die Verfasser identifizierbar, selbst bei sehr gelehrten Glossen bleiben die Autoren oft anonym, ähnlich, wenn der Vergleich erlaubt ist, wie bei den Artikeln von Wikipedia. Aber ich beschränke mich hier auf Scamozzis Beitrag zu diesem Genre. Es ist schwer zu entscheiden, ob die Anmerkungen zu Serlio in einem oder mehreren Durchgängen entstanden sind, wo sie mit einer gewissen Systematik konzipiert waren oder wo sie sich eher zufällig ergeben haben mögen. Der Ton der Tusche ist meistens einheitlich, allerdings nicht durchgehend; der Duktus der Schrift wechselt markant zwischen kursorisch und kalligrafisch. Für einige Glossen lässt sich ein terminus post bestimmen, der späteste zwei Jahre bevor Scamozzi Serlios Bücher neu edierte. Einige von den Glossen, aber durchaus nicht die meisten, finden im kommentierten Index der neuen Ausgabe Entsprechungen. Manche Bemerkungen oder Korrekturen wären nützlich für die neue Ausgabe gewesen, trotzdem sind sie dort nicht berücksichtigt.

  2. Viele Glossen beziehen sich auf die Maßeinheiten, die im dritten Buch benutzt werden. Ihr beständiger Wechsel machte es nötig, immer wieder Maßstäbe zu zeichnen oder auf vorliegende zu verweisen. Zudem ergänzt Scamozzi Angaben darüber, in welchem Verhältnis die Maßeinheiten zum Venezianischen Fuß stehen. Dahinter steht sicher die Absicht, venezianischen Lesern die Umrechnung in ihre vertraute Maßeinheit zu erleichtern. Für Scamozzi persönlich war der Venezianische Fuß nicht die vertraute Einheit. In seiner Heimat Vicenza war ein anderes Fußmaß gebräuchlich. Auf den Vicentiner Fuß bezieht er sich in seinem Entwurf für das vierte Buch der Idea, bezeichnet ihn dort gelegentlich auch als "unseren Fuß". Im Ganzen erwecken die Glossen zu den Maßeinheiten am ehesten den Eindruck, als wären sie zur Vorbereitung von Scamozzis neuer Serlio-Ausgabe bestimmt gewesen. Aber auch sie finden kaum ein Echo in ihr; sie könnten höchstens in Verbindung stehen mit dem vergleichenden Satz von Maßstäben, der dort eingefügt ist. Allerdings erscheint diese sinnvolle Ergänzung erst in der Auflage von 1600.

  3. Manche Glossen wirken wie spontane, informell gemeinte Reaktionen, etwa wenn hingeworfen wird, Serlio rede immer an der Sache vorbei oder Vitruv habe überhaupt keine stilvollen Gebälke beschrieben. Diesen privat wirkenden Ton findet man auch in Glossen von anderen Zeitgenossen; Annibale Carracci zieht in seinen Glossen zu Vasari noch viel krasser über den Autor her. Manchmal wird ein derart rauher Ton jedoch auch in Publikationen angeschlagen. Ein berühmtes Beispiel dafür bildet Albertis schonungsloser Verriss von Vitruv. Teilweise, wie beim Marcellustheater, wirken die Glossen wie Steine eines Mosaiks, das sich aus einer höheren Warte zu einer gewissen Einheit zusammenschließt, aber so ist es nicht immer. Manche Glossen sind mit einiger Sorgfalt ausgearbeitet, wie etwa die Berechnung der Zuschauermenge beim Marcellustheater, die Umrechnung der Maßangaben zum Arco die Gavi oder die Umrechnung des gefälschten Datums der Stiftung der Arena von Verona ab urbe condita zum Abstand von der Entstehung der Welt und der Eroberung Trojas. Letztere Umrechnung ist praktisch nutzlos und dient, wie die Literaturangaben für die altägyptischen Monumente, eher zur Demonstration von Gelehrsamkeit. Manche Glossen sind wie die Publikationen Scamozzis im Pluralis Auctoris abgefasst, der nach Scamozzis eigenen Worten bei öffentlichen Reden und in akademischen Schriften benutzt wurde. Die formelle Signatur, die eine von ihnen trägt, richtet sich sichtlich an eine Öffentlichkeit. Die Glossen zur lateinischen Edition von Hans Blums Säulenlehre waren in lateinischer Sprache abgefasst; auch sie wenden sich demnach an ein Publikum. Solche Attitüden erwecken den Eindruck, dass die Glossen für die Nachwelt bestimmt waren. Ähnlich dem kommentierten Index sollten sie anscheinend überliefern, wie Scamozzi auf die architekturtheoretische Lektüre reagierte.

  4. Die Nachwelt hat die seltene Gelegenheit ernst genommen, einen lebendigen Einblick darein zu erhalten, wie ein Architekt der Renaissance mit Architekturtheorie von Kollegen umging. Davon zeugen die pietätvolle Bewahrung der Randnotizen, als der Band beschnitten wurde, Temanzas Abschrift der Glossen, die vielen Publikationen aus neuerer Zeit zu den Glossen und auch Scamozzis nachhaltiger Einfluss in England. Er wirkte sich nicht nur auf Bauten und Architekturtheorie aus, sogar die Glossen fanden hier Nachfolger: Inigo Jones kommentierte auf diese Weise viele Architektur-Schriften, Vitruv, Alberti, Palladio, auch Serlio und Scamozzis Idea, sein Schüler John Webb verfasste die vielen Glossen zu Serlio, die heute durch den Reprint der Serlio-Ausgabe Scamozzis von 1619 verbreitet sind. Jones behandelt in seinen Glossen Scamozzi ebenso despektierlich wie Scamozzi Serlio. Ein Beispiel: Als Jones 1614 Scamozzi persönlich in Vicenza traf, wiederholte Scamozzi ihm gegenüber mündlich eine skeptische Bemerkung zu einem klugen Hinweis Serlios, die schon in den Glossen zu unserem Band erscheint, und löste damit bei Jones die Reaktion aus: "Dies Geheimnis hat Scamozzi, blind wie er ist, nicht verstanden."

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Literatur

In einer kommentierten Edition der Glossen Scamozzis werde ich das, was hier angeklungen ist, ausführlicher und mit Nachweisen behandeln. Grundlegend für Scamozzi ist der Katalog zur Ausstellung in Vicenza Vincenzo Scamozzi 1548-1616, hg. Franco Barbieri und Guido Beltramini, Venedig 2003. Zu Serlio cf. neuerdings besonders: Sebastiano Serlio a Lyon. Architecture et Imprimerie, hg. Sylvie Deswarte-Rosa, Lyon 2004; sowie den Reprint der Serlio-Edition von 1551 mit einer Einführung von José Ramón Nieto González, Salamanca 2010. Zu Serlios Richtlinien, auf die Scamozzi in seinen Anmerkungen reagiert, cf. Hubertus Günther, "Sebastiano Serlios Lehrprogramm", in: Fund-Stücke Spuren-Suche. Festschrift für Georges Descoeudres, hg. Adriano Boschetti u.a., Berlin 2011, 495-518.

How to cite this article:
Hubertus Günther, "Scamozzi kommentiert Serlio", RIHA Journal 0058, Sonderausgabe "Vincenzo Scamozzi: Lektüren eines gelehrten Architekten" (13 November 2012), URN: + URL: (date of access: [please add]).


1 Das von Scamozzi annotierte Exemplar von Serlios Traktat wurde vom Zentralinstitut für Kunstgeschichte digitalisiert und steht über den Multimedia-Server des Bibliotheksverbunds Bayern (BVB) online zur Verfügung.

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