Werner Oechslin, L'idea della architettura universale: Vincenzo Scamozzis Grundlegung einer Theorie der Architektur, RIHA Journal 0060

RIHA Journal 0060 | 13 November 2012 | Special Issue Scamozzi

Dieser Beitrag erscheint im Rahmen der Sonderausgabe "Vincenzo Scamozzi: Lektüren eines gelehrten Architekten". Die Sonderausgabe geht zurück auf das gleichnamige Kolloquium, das im Juni 2011 am Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München abgehalten wurde.

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L'idea della architettura universale: Vincenzo Scamozzis Grundlegung einer Theorie der Architektur1

Werner Oechslin

Abstract

Scamozzi's Idea della architettura universale (1615) is the last architectural treatise endeavoring to provide a comprehensive and all-encompassing presentation of all theoretical and practical issues pertaining to architecture. In doing so, Scamozzi follows Alberti and, most notably, Vitruv who had first defined architecture as a "scientia." Celebrated by his contemporaries for its stunning erudition, Scamozzi's magnum opus was later, on the same grounds, dismissed as incomprehensible. Consequently, translations restricted themselves to the practical parts on building and the obligatory column theory, thus establishing Scamozzi within the canon of authorities, while the other parts of his all-encompassing work were mainly forgotten. This article is dedicated to Scamozzi's undertaking in its entirety: It traces Scamozzi's claims of the universal scope and significance of architecture and the foundation of these claims within a philosophical tradition. Scamozzi emphasizes that architecture, being committed to the principle of causality, qualifies as a science; more precisely, following Aristotelian tradition and the definiton of architecture as "habitus faciendi," he classifies it also as a "scientia fattiva." At the same time Scamozzi is eager, more than his predecessor Daniele Barbaro, to situate architecture beyond the realm of practice. These questions of the relationship of architecture to other arts and sciences are far from being obsolete today; to the contrary, whether we like it or not, they raise the perpetual issue of the self-understanding of architecture and its role and significance within society.

Inhalt



"Liber quem vides magnae scientiae medulla est."

Lorenzo Pignoria, zu L'idea della architettura universale (1615)

"... e la vanità lo portò ad infrascare il suo Trattato Idea dell'Architettura Universale di tanta affettata erudizione mal digerita, e mal a proposita disposta."

Francesco Milizia, Le Vite de' piu celebri Architetti d'ogni nazione e d'ogni tempo..., Roma 1768, S. 311


  1. Auch Vincenzo Scamozzi, wie zuvor Leonbattista Alberti in seinem De Re Aedificatoria (1452), schreibt Vitruv neu. Das scheinbar zuerst auf zwölf, dann auf zehn Bücher angelegte Unternehmen seiner Idea della architettura universale, von der dann 1615 noch sechs als "opera mutilata" und "mutilata per sempre"2 (Milizia) erschienen, bestätigt dies trotz aller äußeren Umstände ebenso deutlich wie der überall erkennbare Anspruch, das gesamte irgendwie erreichbare Wissen zur Architektur in einem magnum opus zusammenzufassen und zu vereinen. Genauso deutlich und in besonderer Weise auffällig ist das Bestreben, den dazu notwendigen wissenschaftlichen Zusammenhalt darzulegen und zu begründen. Die Ganzheit verlangt nach ihrer eigenen, vom fragmentierten Zustand des unvollendeten Werkes unabhängigen, philosophischen Erklärung.

Universaler Anspruch und Wirklichkeit

  1. Die Absicht eines alles umfassenden Architekturwerks ist schon in Titel und Frontispiz erkennbar zur Darstellung gebracht. Dort ist die Rede von einer "Idea", im weitesten Sinne einer Vorstellung, und moderner aufgefasst eines umfassenden Entwurfs. Die "Idea" bezieht sich auf die Architektur, insofern sie als "universale" grundsätzlich und gültig aufgefasst ist. Im Untertitel zum ersten, die Bücher 1-3 enthaltenden Band, der "Parte Prima", erscheint typographisch herausgehoben die Charakterisierung "Dell'Eccellenza",3 was einem damals verbreiteten Konzept und dem Titel eines entsprechenden Werkes von Orazio Lombardelli (1578) entspricht, das sich nachweislich in Scamozzis Bibliothek befand.4 Der Begriff steht hier für die herausragende Stellung der Architektur und wird entsprechend Scamozzis eigener Inhaltsangabe im "Proemio" als Titel des ersten Buches geführt. Bei Lombardelli erscheint der Begriff mit dem Anspruch verknüpft, einer Wissenschaft die notwendigen Begründungen zukommen zu lassen; denn eine "scienza, che non sa render le cause, e si rivolge in certi particolari", ist nicht mehr als "una scienza imperfetta".5

1 Frontispiz zu Vincenzo Scamozzi, L'idea della architettura universale, Venezia, 1615. Universitätsbibliothek Heidelberg, C 6339-9-25 FOL RES (Quelle: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/scamozzi1615bd1/0001, © Universitätsbibliothek Heidelberg)

  1. Das Frontispiz ist in einen architektonischen Rahmen gesetzt, dessen Inschriften und Allegorien sich von links nach rechts und vom Sockel zum Giebel lesen lasen. Darin spiegelt sich die in Vitruvs Definition der Architektur enthaltene und von Scamozzi selbst betonte doppelte Ausrichtung der Disziplin auf Theorie und Praxis, was hier – durchaus zeitgemäß – durch die Statuen von "Theorica" und "Experientia" versinnbildlicht wird; deren Gesten weisen in die Höhe (für die Theorie) und zu Boden (für die Praxis der vermessenden Geometrie). Im oberen Bereich der fiktiven Architektur des Frontispizes wird dies gleichsam präzisiert und in den Begriffen von "Aedificatio" und "Finitio" weitergeführt, was andererseits den Inhalten der Bücher des zweiten Teils der Idea entspricht.

  2. In diesem universalen Rahmen verhandelt Scamozzi im ersten Buch der "Prima Parte" die grundsätzlichen Fragen der Architektur und beginnt auf der ersten Seite gleich mit der Frage nach der "scientia". Auch insofern folgt er präzis Vitruv, der ja seinerseits im ersten Kapitel (I.I.1) mit der Definition "Architectura est scientia..."6 ansetzt. Zu dieser Definition gehören die beiden Teile der "fabrica" (das Tun) und der sie begleitenden und erklärenden "ratiocinatio". Nicht nur diese letzte Sinnstiftung der Theorie als Erhellung der Praxis, das "demonstrare atque explicare atque",7 sondern auch die zum Topos gewordene Aussage, dass weder Theorie noch Praxis allein sinnvoll seien,8 finden sich in diesen ersten Zeilen Vitruvs. Beides hat Scamozzi zu seinen ersten Begründungen im "Proemio" wie im ersten Kapitel des ersten Buches veranlasst und inspiriert, auch und gerade insofern, als er sich nach weitern Autoritäten, Plato und Aristoteles insbesondere, umsieht.

  3. Doch bleibt unverkennbar die Architektur selbst das Thema, auf das sich auch dieses philosophische Argumentieren ausrichtet und in der Absicht bezieht, der Architektur die entsprechenden Begründungen zukommen zu lassen. Darin lässt sich die Andersartigkeit zu dem sich für einen Vergleich aufdrängenden "Proemio" erkennen, das Daniele Barbaro 1556 seinem Vitruvkommentar voranstellt.9 Dort geht Barbaro gerade umgekehrt von einer grundsätzlichen philosophischen Betrachtung aus, um dann der Architektur davon abgesetzt umso deutlicher einen Platz 'bloß' im Rahmen äußerer menschlicher Tätigkeiten, im Bereich des "vero contingente" und außerhalb präziser Kausalitäten anzubieten.10 Scamozzi schreibt nicht als Philosoph (wie Barbaro), sondern als Architekt, der sich und der Architektur einen philosophischen Raum zu erschließen sucht. Und natürlich kommentiert er nicht wie Barbaro, sondern schreibt von Grund auf 'seinen Vitruv' neu. Und so wie dies für Alberti gilt, und so wie dessen De Re Aedificatoria den damaligen humanistischen Interessen entsprechend zu einer modernen Neufassung Vitruvs geführt hat, so stellt auch Scamozzis Idea in eben dieser Tradition ein ebenso umfassendes wie zeitgemäßes Architekturwerk dar. Dass er früh als "Vitruvio della nostra età"11 bezeichnet wird, und dass er selbst im "Proemio" auf die lange, 45 Jahre dauernde Vorarbeit und die im engeren Sinn auf 25 Jahre veranschlagte Vorbereitungszeit verweist,12 unterstreicht dies.

  4. Gemessen an diesem hohen Anspruch, der sich ja schon im Wörtchen "universale" verbirgt, verlief die Erfolgsgeschichte des Buches allerdings enttäuschend.13 Scamozzis Teilerfolg passte sich demjenigen von Serlio, Vignola und Palladio an; auch er wurde – ganz wörtlich – einer der Säulenheiligen, eine Autorität unter andern in Sachen Säulenordnung. Dazu hat er selbst Hand geboten: Das Thema der Säulenordnung erscheint im Titel der "Seconda Parte", womit an prominenter Stelle auf den Inhalt des sechsten Buches verwiesen wird, das ja dann in der Tat zu dem am meisten und meist ausschließlich übernommenen Kapitel der gesamten Lehre Scamozzis wird.14 Abgesehen von Neuauflagen im engeren venezianischen Umfeld haben sich deutsche und französische Ausgaben des Werkes Scamozzis, von gelegentlichen Bezügen auf das dritte Buch abgesehen,15 in diesem Sinne beschränkt. Die Beweggründe, sieht man von den üblichen verlegerischen Klimmzügen ab, finden sich auch mal präzis beschrieben. D'Aviler entschuldigt die Einschränkung mit der Beobachtung, es handle sich um eine in der Zeit Scamozzis verbreitete, durch und durch italienische literarische Form der Wissensverbreitung: "[I]l faut considérer que c'étoit la manière d'écrire de son temps, & particulièrement des Italiens, qui font autant consister le brillant de leurs ouvrages dans ces citations, que dans l'excellence & dans la nouveauté de leurs pensées."16 "Trop sçavant" lautet das Attribut, das man bis zu Quatremère de Quincy Scamozzi zusammen mit weiteren wenig erbaulichen Attributen wie "une ambition trop ardente" und dem "trop de travaux divers et sur trop de points" zuweist.17 Und umso plausibler erschien dann die Einschränkung der Übersetzungen auf die Säulenlehre: "[O]n a crû que nos Architectes n'auroient pas desagreable de voir traduit en françois celuy qui leur manquoit des trois Architectes qui tiennent le premier rang pour la doctrine des Ordres entre les Modernes."18

  5. Das erste Buch Scamozzis bleibt bei all diesen Erwägungen außen vor, und damit die Frage nach der grundsätzlichen Bestimmung des Wissensbereichs Architektur bezüglich seiner Verlässlichkeit und seiner philosophisch-wissenschaftlichen Grundlegung.

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Scamozzi ein Bildungsarchitekt

  1. Zu dieser Schwierigkeit gesellte sich im Verlauf der Arbeit Scamozzis mehr und mehr auch jene eines überbordenden und kaum übersehbaren Wissens. Scamozzi hatte sich über die Jahre und auf vielen Reisen eine Fülle an Wissenswertem erworben. Auf die Reise durch Frankreich, Deutschland und Ungarn 1600 bezogen meint Scamozzis schärfster Kritiker Franesco Milizia: "Ricco di cognizioni ritornato a Venezia, ebbe una calca tale di facende, che non sapeva donde voltarsi."19 Schon Barbaro hatte ob der Herkulesaufgabe seiner Vitruvedition gestöhnt. Er verwies auf die notwendige Unterstützung durch andere, insbesondere in Fragen, die die Praxis und die Methode der Architektur, die Rekonstruktion der vermissten Zeichnungen Vitruvs zuvorderst, betrafen.20 Dies führte zur Zusammenarbeit mit Palladio. Und damit wurde gleichzeitig die klare Trennung der Aufgaben und Kompetenzen des Architekten und des 'Intellektuellen' sichtbar. Eine genauere Überprüfung der Vitruvausgabe von 1556 lässt erkennen, zu wie vielen konkreten Schwierigkeiten es kam und wie unvollendet auch dieses Bemühen, Vitruvs Werk als umfassende Summe der Architektur neu erstehen zu lassen, letztendlich blieb. Nur eine sehr kurze Zeit war seit den hochfliegenden Plänen der Vitruvakademie und dem Programm vergangen, das Claudio Tolomei in seinem Brief an Agostin de Landi vom 14. November 1542 als "tutto l'ordine di questo nuovo studio d'architettura" umrissen hatte. Barbaro bemüht sich um Übersetzung und Kommentar, um ein Textverständnis im weitesten Sinne, und zieht zudem Palladio zwecks Rekonstruktion der vitruvianischen Schemata und Zeichnungen hinzu. In einem eingefügten Blatt liefert Barbaro gleichsam einen Zwischenbericht, bekennt seine Abhängigkeit von der Hilfe anderer,21 beschwört die Zusammenarbeit, weil einer allein eine solche Arbeit nicht leisten könne, und lässt dem dann das Lob Palladios folgen. Dessen großformatige Zeichnungen ließen sich nur unter größten Schwierigkeiten den Bedingungen der Buchproduktion anpassen. Und Barbaro fühlt sich gedrängt, dies ausdrücklich zu erklären und zu entschuldigen. Nach weiteren zwei Editionen 1567 holt Palladio noch 1570 in seinen Quattro Libri einiges von dieser Arbeit nach. Und dort wird er bestätigen, was seiner Meinung nach die Zuständigkeit und Arbeit des Architekten vernünftigerweise einschränkt: "fuggirò la lunghezza delle parole".22

  2. Der Architekt baut, und seine Sprache ist die der Zeichnung, der "lineamenta", dem Begriff, mit dem schon Alberti das vitruvianische "ratiocinatio" ersetzt.23 Die intellektuelle und erfinderische Leistung des Architekten erfolgt durch die "lineamenta", die Zeichnung, und führt zu den spezifischen "segni", die gemäß Vitruv – und Barbaro – in den architektonischen Werken sichtbar werden sollen.24 Diese Auffassung ist ebenso alt, wie neu begründet, und gibt bis in heutige Zeit – mit etlichen Irritationen verbunden – den Ton an. Palladio ist kein Meister des Wortes.

  3. Bei Scamozzi liegen die Dinge anders. Und dies ist bei der Beurteilung der Idea dell'Architettura Universale hervorzuheben. Es geht um eine umfassend argumentierende Grundlegung der Architektur; Scamozzis Werk stellt den wohl letzten Versuch dar, in dieser Absicht einer erschöpfenden Enzyklopädie der Architektur Vitruv weiter und neu zu schreiben. Nach Alberti ist dies der zweite Anlauf, die Zehn Bücher gänzlich neu in einem zusammenhängenden und kohärenten Text zu fassen und 'nicht bloß' zu kommentieren. Das ist der große Anspruch, den Scamozzi einzulösen versuchte.

  4. Im Unterschied zu Palladio, der als Steinmetz beginnt, wird Scamozzi schon früh die hohe Bildung und intellektuelle Befähigung attestiert. Und dies lässt die Ausgangsbasis nochmals in einem ganz anderen Lichte erscheinen. Scamozzi ist von allem Anfang her 'gebildet'. Mit 36 Jahren, nach Aufenthalten in Rom und Neapel, wird er aus Anlass des zusammen mit seinem Vater Gian Domenico zur Serlio-Ausgabe von 1584 verfassten "Indice copiosissimo" wegen seines "divinissimo intelletto" gefeiert.25 Scamozzis klassische Bildung ist unter anderm durch die in der Biblioteca Marciana erhaltenen "Sommarii"26 sowie durch Bücher aus seinem Besitz bestens dokumentiert. Zu Letzteren gehört der nun für das Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München erworbene Serlio.27 Die "Sommarii" der Marciana tragen Daten aus dem Jahr 1586; doch am Ende findet sich eine Notiz von 1610, die zusammen mit dem Verweis Temanzas auf die Entstehung der Idea einen direkten Zusammenhang dieses gesammelten Bildungswissens mit der Redaktion von Scamozzis magnum opus schließen ließ.28 In jedem Fall spiegelt sich nicht nur der Inhalt, sondern auch die Art der Auflistung und Anordnung des in den antiken Texten tradierten enzyklopädischen Wissens in Scamozzis Idea. Das hat dazu beigetragen, die Idea für die Nachwelt als kaum leserlich und überfrachtet erscheinen zu lassen. Die von Scamozzi 1586 erstellten "Sommarii" sind denn auch meist recht summarisch, verweisen auf einzelne Sachverhalte, ohne sie zu kommentieren oder in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Immerhin interessiert gelegentlich die Heraushebung. Aus Prokops Beschreibung der Bauten Justinians entnimmt er nach der Lektüre zwischen dem 17. und 19. April 1586 – in gerade mal drei Zeilen – den Hinweis auf Mosaikarbeiten in Konstantinopel, denjenigen auf die Größe des "Tempio della Madonna in Gerusalemme" und die hochgesetzte Bestimmung der Basilika ("Edificij imperiali da Greci sono deti Basiliche").29 Gelegentlich übernimmt er ein Urteil ("Piazza edificata da Cesare, molto bella, con dignità dela piazza grande",30 gemäß Dio Cassius), oder folgt besonderen Hinweisen, der Bedeutung der Nähe des Tempio della Pace zum Forum etwa ("intendi per mostrar luogo nobile"31). Kaum überraschend fällt der Sextus Pompeius Festus gewidmete Teil ausführlich aus; Scamozzi zeigt sich an Definitionen, Worterklärungen besonders interessiert, kopiert in griechischen Lettern "Basilica apo tou basileos"32 und referiert die Umschreibung des Monuments als "Monimento e detto per essere edificato, per causa d'un morto, e per memoria, come tempij, portici, scritti et poemi, et non per esser sepolto".33 Das Fehlen von Plato, Aristoteles und Plinius in den in der Biblioteca Marciana erhaltenen "Sommarii" lässt auf die Lückenhaftigkeit dieser Dokumente schließen.34 Denn gerade auf Plato und Aristoteles bezieht sich Scamozzi insbesondere, wenn es denn um die wichtigsten Fragen einer Grundlegung und 'Wissenschaft' der Architektur geht.

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Der Aufbau des Werkes: "Daedali opera"

  1. Auch diesbezüglich macht es Scamozzi dem Leser nicht leicht. Die der Frage einer "scienza" der Architektur gewidmeten Teile finden sich ganz nach Maßgabe der spezifisch architektonischen Fragestellungen auf verschiedene Kapitel der "Prima Parte" verteilt. Dem gehen jedoch die grundsätzlich gehaltenen Fragen zu Wissenschaft und Philosophie und zu den freien Künsten im "Proemio" voraus, das seinerseits mit der Inhaltsangabe der zehn von Scamozzi geplanten Bücher schließt.35 Damit das Gewicht dieses Unternehmens auch richtig verstanden werde, lässt Scamozzi der Aufzählung seiner zehn Bücher den Hinweis auf die diesem Werk insbesondere gewidmeten 25 Jahre mitsamt den nach Homer zitierten Charakterisierungen einer langen, jedoch sich lohnenden Arbeit vorausgehen: "Aetate prudentiores reddimur"; "Tarda, & fera nimis, sed fama, & laude perenni."36 Die Auflistung der Themen der zehn Bücher lässt – in Abgrenzung und Verbesserung Vitruvs – Rückschlüsse auf Scamozzis eigene Akzentsetzung zu. Das betrifft insbesondere das erste, der "eccellenza" gewidmete Buch. Ihm folgen im zweiten Buch die Diskussion der "Regioni, e Paesi, e qualità de'Siti, e forme delle Città, e Fortezze", im dritten die Behandlung der privaten, im vierten diejenige der öffentlichen Bauten, im fünften die Sakralbauten, im sechsten zusammengefasst die "Ordini, & ornamenti", im siebten – spät! – die "materie per edificare", im achten – insofern und auch danach konsequent fortgesetzt – das "fondar, & elevare in coperto", im neunten die "finimenti", die Vollendung der Gebäude und schließlich im zehnten Buch – parallel zu Albertis "instauratio" in dessen zehntem Buch – die Anleitung zu den "riforme, e restaurationi" der Bauten. Kein Zweifel, die Aufteilung und Anordnung überzeugt durch innere Logik; sie beginnt bei den grundsätzlichen unter die Exzellenz gestellten Fragen (Buch 1), behandelt die Aufgaben im Dienst an der Gesellschaft (2-5), und fasst in einem zweiten Teil die Formen (6) sowie die Fragen des Bauens selbst von den Materialien bis zum Bauunterhalt (7-10) zusammen. An Klarheit mangelt es zumindest diesbezüglich nicht.

  2. Scamozzi schließt diesen Blick auf das eigene, als "corpo intiero, & in tutte le sue parti compito, e perfetto" bezeichnete Werk mit dem Diktum "Daedali opera".37 Damit hat er selbst den großen Aufwand einer ganzheitlichen Darstellung nicht nur durch die mühselige, lange dauernde Arbeit, sondern auch durch das Zusammenfügen des Ganzen und seiner Teile in Erinnerung gebracht. Sinnvoll fügt sich diese Charakterisierung des eigenen Werks an die großen, zuvor exponierten Themen von Wissenschaft, Philosophie und der Künste an. In diesem Rahmen will Scamozzis Idea verstanden sein.

  3. Der innere Zusammenhalt des Ganzen ist gleichsam als Forderung im "Proemio" dargelegt und im ersten Buch nach verschiedenen Gesichtspunkten vom architektonischen Schrifttum zur Bildung geometrischer Figuren und bis zur Entlöhnung der "Capomastri" abgehandelt. Scamozzis Bildungsvorrat hat sich dabei in Kapiteln wie demjenigen zur "Magnificienza" und "Grandezza" der Architektur bei den Griechen (Kap. XIX) und jenem zu den "Opere Stupende, e Meravigliose" der alten Römer (Kap. XX) niedergeschlagen. Die Kapitel zur Formfindung auf Grund geometrischer Figuren (Kap. X-XII), zur Invention (Kap. XIII) und genauer zur Zeichnung (Kap. XIV) und zum Modell (Kap. XV) schließen sich – ganz im Sinne alter, aristotelischer Zuordnung architektonischen Tuns zur Ethik – an die Darlegung der "Virtù, e Scientie, e del Decoro", über die der Architekt verfügen müsse (Kap. IX), an. Auch daran lässt sich ablesen, wie sehr es Scamozzi um den größeren Rahmen der grundsätzlichen Frage nach der "scientia" geht, mit der ja Vitruv (I.I.1) beginnt. Scamozzi hebt dies in seinem "Proemio" auf eine allgemeine philosophische Stufe und bemüht dazu in erster Linie Aristoteles und Plato. Darin ist ihm Daniele Barbaro 1556 in seinem Vitruvkommentar vorangegangen. Im direkten Vergleich lässt sich die besondere Position Scamozzis umso deutlicher erkennen; während Barbaro die Architektur deutlich von Wahrheitsfindung und von einer 'Wissenschaft' trennt, beansprucht Scamozzi für die Architektur in unübersehbarer Weise den Status einer "scientia". Nach den entsprechenden, beweisführenden Erörterungen im "Proemio" setzt Scamozzi dies gleichsam als Tatsache ins erste Kapitel des ersten Buches, um von hier aus sämtliche die "eccellenza" der Architektur betreffenden Fragen abzuhandeln.

  4. Scamozzi beginnt das "Proemio della Prima Parte" – auch dies ganz aristotelisch, gemäß dem ersten Satz der Metaphysik – mit dem "desiderio di voler sapere" des Menschen und verweist sodann auf die "Scientie" und "Arti" und deren "diversità", die er "con semplice, e breve maniera" abzuhandeln ankündigt.38 Es folgt als erstes eine Definition der "Scientie" als "indagatrici delle cause". Insofern argumentiert er wie Barbaro, der die verschiedenen Beweisgründe dem Habitus von "scienza" ("habito di conclusione per vera, & necessaria prova acquistato"), von "intelletto" ("habito de i principij & delle prove") und von "sapienza" ("pronta, & sottile cognitione delle prove alle conclusioni applicate") zugewiesen hat.39 Doch während Barbaro davon deutlich den Habitus der Künste als auf das "fare, & operare dirittamente" ausgerichtet unterscheidet, besteht Scamozzi auf der Zusammenführung von "scienza" und dem Tun und spricht deshalb auch ausdrücklich von den "Scientie fative, overo attive". Letztlich wird dies über die Verbindung mit der "Filosofia Morale" einsichtig gemacht, womit die Ausrichtung jeglichen Wissens auf eine Tätigkeit betont wird; Scamozzi beruft sich dabei auf Aristoteles ("il sauio"): "Finis in morale scientia non est scire, sed agere."40 Barbaro hingegen verweist den Architekten auf die Künste, weil dieser 'bloß' in der äußeren kontingenten Welt handelt; er verbannt ihn aus den "scienze", um sein Tun den aus den Erfahrungen gewonnenen "artes" zuzuweisen.41 Scamozzi wiederum geht den umgekehrten Weg und weist diesem Tun selbst den Weg einer "scienza". Er unterscheidet zwar zwischen den "Scientie fative" und den "(Scientie) Theoricali", fasst diese aber, sich insofern auf Plato beziehend, als zwei Gattungen ein und derselben Wissenschaft auf,42 die beide über Prinzipien verfügen, die – gemäß Aristoteles – "dall'intelletto" oder aber "da alcuna potenza", der Künste nämlich, hergeleitet sind.43 Scamozzi wird diesen auf die künstlerische Tätigkeit ausgeweiteten Wissenschaftsbegriff bis hinein in die konkreten Vorgänge des Zeichnens (insofern durch Vitruvs Begriff einer "graphidis scientia" gestützt) mitsamt den Begründungen "per via delle cause" verfolgen.

  5. Um den Künsten – zwischen ihrer Festlegung als "Dottrinali" oder aber "Mecaniche" – ihre besondere Befähigung zu attestieren, zitiert Scamozzi an dieser Stelle vorerst eher überraschend Alciatis von Galen abgeleitetes Emblem "Ars naturam adiuvans" und deutet es als die Möglichkeit der Kunst, die Natur zu perfektionieren; in überdeutlicher Weise umschreibt es Scamozzi als "à dar compimento, e perfettione alle cose tenute impossibii, e come imperfette della natura" und versieht es mit dem Zusatz des Verbleibens in der Sinnenwelt: "acciò che possino esser capite dal senso".44 Bei Alciati erscheint Merkur als "inventor" auf einem quadratischen Sockel sitzend, der für die "stabilitas", die Verlässlichkeit der Künste und der "hominum studiosorum" steht, und andererseits, umgekehrt die Flüchtigkeit symbolisierend, die "Fortuna" auf einem Globus.45 Das lässt nach dem Verhältnis von "techne" und "tyche", von fundiertem Können und glücklichem Zufall, und deren Gewichtung fragen und führt zu Formulierungen wie "Fortuna artem invenit, non ars fortunam" oder Thesen nach der Art: "fortuna inconstans, ars certa".46 Will man die Kunst der Wissenschaft zuweisen, ist eine Stellungnahme unabdingbar. Scamozzi schlägt sich hier auf die Seite Platos, dessen Forderung er zitiert, "che tutte le arti deono far le cose con ragione"; dadurch sind sie mehr als bloße Erfahrungen ("peritie") und nach dieser Maßgabe mehr oder weniger 'wissenschaftlich': "anco … le arti sono, e più, e meno scientifiche".47 Ihnen sind gemäß Scamozzis Willen und Vorstellung nicht bloß die "nobiltà de'soggetti", sondern auch die "certezza delle dimostrationi" zugewiesen.

  6. Mit der so gestützten, einer (wissenschaftlichen) Beweisführung gegenüber offenen Auffassung führt Scamozzi nun in seinem "Proemio" die "artes liberales" ein, und es überrascht nicht, dass er gleich zu Beginn – unter Verweis auf die spätere Darstellung (in Kap. VIII) – ausdrücklich auf die "Grafida", die schon von den Griechen den Künsten zu den sieben freien Künsten hinzugerechnet worden sei, verweist. Wieweit er dabei in besonderer Weise auf das zuvor hervorgehobene Partizipieren mit den Sinnen ("acciò che possino esser capite dal senso") Bezug nehmen will, muss man offenlassen.48 Jedenfalls wird jetzt die Unterscheidung in "Arti Dottrinali" und "Mecaniche" einmal mehr aufgenommen. Letztere werden mit den mathematischen Disziplinen des Quadriviums verknüpft, denen wiederum – wie in der einleitenden Bemerkung zu den "Scientie" – der Umgang mit "forme, e grandezze, & a'numeri, & a gli accidenti" und deshalb auch die Befähigung zur Beweisführung zugeschrieben wird: "...e procedono con certissime, e fermissime dimostrationi lineari in potenza solamente". In ihrer Anlage und 'Potenz' sind die mechanischen Künste also wissenschaftlich, was für die zuvor den "Scientie" zugeschriebenen Künsten des Triviums, der Grammatik, Dialektik und Rhetorik, so nicht zutrifft. Stets aber gilt, so schließt Scamozzi diese Erläuterung, dass die Künste in "Theorica" und "pratica" unterschieden sind, gemäß der Vorstellung "quella come padrona, e questa come sua ancilla".49

  7. Der Begriff "Scientia" wird bei diesen vielfältigen und unterschiedlich belegten Argumentationen zweifelsohne etwas strapaziert, offensichtlich in der Absicht, der Architektur diese 'Exzellenz' zuschreiben zu können. Entscheidend ist dabei, dass Scamozzi – im Unterschied zu Barbaro – die Unterscheidung der "Scientie fative, overo attive" von den "Theoricali" innerhalb des Wissenschaftsdiskurses vornimmt und ihnen vorweg das Attribut des Wissenschaftlichen verleiht. Der Blick richtet sich umso mehr auf die beweisführenden Verfahren der Künste, das Vorgehen mittels "metro, e misura", genauso wie dasjenige mittels "via, e metodo", das der Dialektik zuerkannt ist. Nicht jedesmals wird ausdrücklich das der Wahrheitssuche direkt unterstellte "per via delle cause" hervorgehoben; es geht häufig vordergründig und ganz praktisch um Verfahren. Die Rhetorik kennt das "disuadere con ragioni"; die Dialektik argumentiert nach "genere, specie, differentia, proprietà, & accidente", kennt Form, Figur, Ort und Name; die Geometrie argumentiert mittels Linie, Fläche und Körper, und die Astrologie 'spekuliert mathematisch' ("specula Mathematicamente").50 In Scamozzis weiterer Argumentation werden auch solche Kennzeichnungen, das "speculare" insbesondere,51 genauso wie beispielsweise das "via e metodo" dem Architekten zugute gehalten, um damit dessen wissenschaftliche Befähigungen umso deutlicher hervortreten zu lassen.

  8. Die Argumentation führt Scamozzi in seinem "Proemio" konsequent weiter zu der die Architektur unmittelbarer betreffenden Unterscheidung der "Arti Mecaniche" und der "Arti imitatrici". Mit den Erstern ist man bereits bei Vitruv (I.I.16), und prompt führt Scamozzi an, dass die "arti Mecàniche" beides bemühen, "l'ingegno, e parimente le mani", und charakterisiert dieses Zusammengehen als "peritia".52 Auf das spätestens seit Alberti besonders hervorgehobene, Wissenschaft und Handwerk gegenüberstellende oder vergleichende Argument geht Scamozzi später wiederholt ein.53

  9. Doch im "Proemio" geht es ihm vorerst noch um die weiteren Kennzeichnungen unterschiedlicher Tätigkeiten. Er führt die "Arti imitatrici", Malerei und Skulptur und verwandte Künste ein, die wesentlich mit dem "Disegno" (nicht Grafida!), mit Proportion, "parti, e le corrispondenze", umgehen. Um "res sensibilis, & visibilis" ergänzt, in der äußeren Sinnenwelt angesiedelt, fallen diese – hier gegen Plinius gesetzt – aus dem engeren Bereich einer 'Scientia' heraus; Scamozzi zitiert: "Ars est recta ratio rerum factibilium".54 Er führt die Beschreibung der unterschiedlichen Tätigkeiten und Kompetenzen fort. Zu den "Arti operative, ò fabrili" zählt er den "Lapicida", den "Muratore" und den "Fabro", die Handwerker im engeren Sinn "per far con le loro mani", wozu er neben Vitruv Cicero zitiert: "Natura enim dedit homini manus multarum artium ministras." Die "[Arti] Tectoniche" bezieht er auf die Formgebung der "Soperficie della materia". Und so scheint er hier all das, was im vitruvianischen Sinne den Zusammenhalt von Theorie und Praxis, genauer von "fabrica" und "ratiocinatio" garantiert, möglichst vollständig auflisten zu wollen. Auf den Anteil des 'Wissenschaftlichen' kommt er später in jeweils spezifischem Zusammenhang wieder zurück.

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Die Architektur als eine beweisführende, "causa" und "ragioni" beherrschende Disziplin

  1. All diese grundsätzlichen, einleitenden Überlegungen hat Scamozzi in sein "Proemio" aufgenommen. Das erste Buch leitet er, von dieser Grundlage ausgehend, selbstbewusst mit einem Lob der Architektur ein. Dieses setzt bei den "attioni de gli huomini" und deren Bedeutung für die "Republiche, & i Regni" an und bestärkt mit der Autorität Aristoteles, dass sich die Architektur insofern entschieden heraushebt: "...l'Architettura non solo sarà scientia...; mà frà le scientie verrà ad esser degnissima, e meritissima d'ogni lode."55 In der Begründung werden die spezifischen Merkmale einer Wissenschaft Architektur hervorgehoben: "sublime nella speculatione; indubitata nelle dimostrationi..." und auch "eccellentissima per il methodo, ch'ella tiene nel dimostrare". Daran knüpft sich dann die Erläuterung der Definition Vitruvs, des "Architectura est scientia" an. Und dem wiederum folgt einmal mehr der Rückgriff auf die antiken Autoren, auf die Fragen von "speculatione", reiner geistiger Betätigung (der Mathematik) respektive deren Zweckbezogenheit, auf den Zusammenhang des "cognoscens" und des "agens", auf Akt und Potenz, auf den Stellenwert von "opus" und "doctrina" auch für die Architektur. Alles dient der Feststellung und dem Beweis, dass Architektur eine Wissenschaft sei: "Laonde da coteste autorità di Vitruvio, di Platone, d'Aristotele, di Gemino, di Pappo, e d'altri molti, che non adducciamo, si vede, che l'Architettura indubitatamente, e Scientia speculativa, e precellente nelle dottrine, e nelle eruditioni, e tanto nobile, e singulare investigando le cause, e le ragioni delle cose à lei attinenti."56 Letzteres, der Verweis auf die "cause" und "ragioni", ist das entscheidende Merkmal, das gemäß Scamozzi Architektur als Wissenschaft qualifiziert und das Barbaro 1556 gerade umgekehrt dazu veranlasst hat, Architektur aus dem engeren Umfeld einer wahrheitssuchenden Disziplin herauszunehmen. Scamozzi bestärkt diesen 'Beweis' kausaler Begründbarkeit: "poiche essa hà le sue dimostrationi; certi, & indubitabili".57 Das befähigt die Architektur zum "insegnare, e dimostrare", "come è costume delle Mathematiche", wie Scamozzi betont. Das entspricht Vitruvs Erklärung der "ratiocinatio" als "demonstrare atque explicare" (Vitruv I.I.1).

  2. Scamozzi strebt nicht nur eine Legitimation der Architektur aus der Autorität antiker Autoren an, sondern bemüht sich um die sich aus einem solchen Wissenschaftsverständnis ergebenden Vorteile von Anwendung und Methode. "[I]l sapere in potenza" und das "redur anco le cose in atto per via delle cause, e delle ragioni" führen auf diese Weise, als ein verlässliches, auf Ursache und Grund beruhendes Verfahren, zu einem auch für die Gesellschaft nützlichen Wissen, "un certo & efficace, e maggior sapere".58 Konsequenterweise erörtert Scamozzi am Ende dieses ersten Kapitels die Urteilsfähigkeit, das – schon bei Vitruv hervorgehobene – "giudicio", das er nun entschieden der "peritia dell'Arte", der Praxis und Erfahrung zuweist und von der "purità della scienza" trennt.59 Es leitet über zu "manu ac tractationibus", zur Praxis, zu der Scamozzi Vitruv (I.I.16) wörtlich zitiert, und zu dessen Hinweis, dass sie – "che sono i Capi Mastri", wie Scamozzi präzisiert – jeweils nur eine Kunst beherrschten ("proprie una arte ad faciendum ... instituti"). Schon von Alberti als Problem erkannt und mit "fabri enim manus architecto pro instrumento est"60 im Prolog seines De Re Aedificatoria umschrieben, wird dieser Aspekt, sicherlich auch mit Blick auf damalige Arbeitspraxis, an anderer Stelle vertieft. Ganz im Sinne der zusammenfassenden Exposition im ersten Kapitel und der dort erfolgten Erörterungen wird Scamozzi die Rolle des "Capomastro" ausführlich im Kap. XXVIII "Della Preminenza dell'Architetto" diskutieren und in einem nächstfolgenden Kap. XXIX "Della Peritia, et Imperitia de Capomastri, e dell'eleggerli, & applicarli bene all'opere" weiterführen.61 Wo sich später die Gelegenheit ergibt, wird er wieder umgekehrt auf den Zusammenhang der Tätigkeit des "Capomastro" mit der Wissenschaft der Architektur verweisen.

  3. Auf diese Weise weitet sich die Diskussion aus, folgen Argumente und Begründungen je nach den jeweils neu und anders auftretenden Fragen. Auch Vitruvs Satz zur Unterscheidung des "quod significatur, & quod significat" (Vitruv I.I.3) führt ihn zur Frage nach der "prescienza Theoricale" und nach der Erfahrung.62 Er hält an der Überlegenheit des auf einer "cognitione delle cause" basierenden, erworbenen Wissens – im Vergleich zu bloßer Erfahrung – fest und zitiert einmal mehr Aristoteles: "Artem scientiam esse magis quam experimentum."63 Dieser wiederholte Verweis auf eine Wissenschaft bestätigt ihn auch in der Annahme, dass das im Intellekt des Architekten entstehende Wissen letztlich in eine "cognitione universale" münden könne und solle.64 Man darf diese Argumentation durchaus auf den Titel von Scamozzis Idea della architettura universale beziehen, womit die Verankerung im Wissen und die Verbindung mit Intellekt und Wissenschaft in grundsätzlicher Absicht thematisiert sind.

  4. Wie 'instrumental' andererseits Scamozzi – auch dies durchaus in bester vitruvianischer Tradition – denkt, zeigt sich in besonderer Weise an jener Stelle, an der er die Tätigkeit des Architekten gleichsam vom Resultat, vom Gebäude her liest. Dort, wo er Vitruvs "fabrica" mitsamt der erklärenden Formulierung des "manibus perficitur è materia" erklärt, führt ihn das wieder prompt zur Frage der Abgrenzung von der Aufgabe des Architekten und andererseits von handwerklicher Tätigkeit zurück: "E qui si scopre l'operatione de'Capi mastri".65 Und dies wiederum ist Anlass, einmal mehr auf dem "habito scientifico" zu bestehen, der "im Geist des Architekten sitzt" ("che risiede nella mente dell'Architetto"). Das verbindet mit Vitruvs Begriff der "ratiocinatio" und der entsprechenden Definition und der Ausrichtung – "cum ratione" – auf das Tun. Und wieder präzisiert dies Scamozzi mit Hinweis auf Aristoteles und nach dem Modell von Ursache und Wirkung. Das "il quale se la forma nella Idea" wird bei der Gelegenheit genauer mit dem "overo la disegna con lineamenti" zusammengelegt; und auf diese Weise wird das "operare" mit der "cosa operata" verknüpft und auf die "causa" und den – wissenschaftlichen – Zusammenhang von Ursache und Wirkung bezogen. Scamozzi zitiert Aristoteles: "Causa enim domus ex qua fit motus est, artificium, & aedificatori: & causa, propter quam sit domus, est operatio; & materia domus est luctum, & lateres: & forma domus est terminus eius."66 Damit ist auch der Hylemorphismus ins Spiel gebracht; der verlässliche, durch Ursache und Wirkung bestimmte Vorgang der architektonischen Tätigkeit erfüllt sich, von Idee und Zeichnung ("lineamenta") ausgehend, in der Überführung von Materie in Form. Es besteht kein Zweifel, dass Scamozzi mit solchen – philosophischen – Zusammenhängen nicht nur vertraut ist, er ist auch ganz offensichtlich davon überzeugt, dass sich diese größeren Zusammenhänge in der Architektur geradezu modellhaft darstellen lassen. Schließlich verwendet ja schon Aristoteles in auffälliger Häufigkeit architektonische Metaphern; und davon macht Scamozzi genauso wie vor ihm Leonbattista Alberti ausführlich Gebrauch.

  5. Es mangelt Scamozzi auch nicht an eher 'platonischen' Überlegungen. In Kap. XXIV widmet er sich dem Architekten, insofern er spekulativ tätig ist, und außerhalb der körperlichen Welt ("fuori della materia corporea") die Dinge – und natürlich insbesondere auch die "cose Mathematiche" – bedenkt.67 Scamozzi legt hier dar, wie der Architekt "forme universali, e particolare" erfindet und die Formgebung mit "moduli de gli ordini, ornamenti, e simiglianti cose" vorgibt, um sie dann den Ausführenden ("per mano di Capi mastri") zu überlassen. An dieser Stelle argumentiert Scamozzi auf der Linie des erfindenden Architekten, der durch seine "inventioni", durch Zeichnungen und Modell ("e disegna, e fà comporre modelli") Vorgaben macht, die dann – wörtlich "in atto" – umgesetzt und der äußeren Sinneswelt zugeführt werden. Darin sieht Scamozzi eine Vorgehensweise, die er auch in den wissenschaftlichen Verfahren des Mathematikers, des Astrologen und des Musikers erkennt.68

  6. Bei diesem ausgeprägten Interesse für Vorgehensweisen und Methoden überrascht es nicht, dass sich Scamozzi auch in ganz besonderer Weise dem "disegno" zuwendet. Schließlich findet sich eine solche Heraushebung schon bei Vitruv und ist schon dort der Begriff mit der "scientia" verbunden: "Deinde graphidos scientiam habere..."69 Scamozzi holt aus und dokumentiert die Bedeutung der Zeichnung mit Plinius, bestärkt jedoch auf der Grundlage einer Zuordnung zur Arithmetik und zur Geometrie und deren "primi gradi di certezza" die besondere Verbindlichkeit und Verlässlichkeit der Architekturzeichnung. Vitruv folgend spricht er von der "scientia del Disegno", listet andererseits aber auch all die spezifischen Befähigungen auf, die sich anderweitig mit der Zeichnung verbinden, die "franchezza di mano", die "leggiadria di lineare, & esquisitezza di toccare d'acquarelle". Doch auch dies ist nur Teil einer übergeordneten "somma intelligenza del Disegno".70

  7. Auf solche Weise dringt das grundsätzliche, philosophische Wissen, das Scamozzi zu Beginn auf bester Grundlage erörtert diskutiert und entwickelt hat, in die konkreten architektonischen Verfahrensfragen hinein. Das macht es dem Leser nicht einfach, dokumentiert jedoch ein 'vernetztes Wissens', das sich eben nicht auf Grundsätze – und 'Theorie' – beschränkt, sondern die einmal gemachten Einsichten beweisführend in die konkreten, den 'habitus' des Architekten, seine Kompetenzen betreffenden Fragen hinein verlängert. Das hat einer Architekturtheorie, die auf die Vorteile weniger Regeln bedacht ist, von denen dann Symmetrie, Proportion u.a.m. auf deduktivem Weg 'direkt' abgeleitet werden, kaum gepasst. Jene Vorstellungen haben sich mit der Säulenlehre verbunden und haben die theoretische Auseinandersetzung architektonischer Formfindung lange Zeit dominiert. Scamozzi und seine Idea della architettura universale sind darob – mitsamt der versuchten wissenschaftlichen Grundlegung der Architektur und dem dazu bemühten, erstaunlichen Argumentationsreichtum – vergessen worden.

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How to cite this article:
Werner Oechslin, "
L'idea della architettura universale: Vincenzo Scamozzis Grundlegung einer Theorie der Architektur", RIHA Journal 0060, Sonderausgabe "Vincenzo Scamozzi: Lektüren eines gelehrten Architekten" (13 November 2012), URN: + URL: (date of access: [please add]).


1 Die folgende Untersuchung folgt früheren Darstellungen des Autors, auf die hier generell verwiesen sei und die ausnahmsweise auch unten zitiert werden: Werner Oechslin, "Premesse a una nuova lettura dell'idea della architettura universale di Scamozzi", in: L'idea della architettura universale di Vincenzo Scamozzi, Nachdruck d. Ausg. Venedig 1615, Vicenza (CISA) 1997, S. xi-xxxvii; in der Folge zitiert [Oechslin 1997]; Werner Oechslin, "L'Architettura come scienza speculativa", in: Franco Barbieri und Guido Beltramini, Hg., Vincenzo Scamozzi 1548-1616, Ausst.-Kat. CISA Vicenza, Venezia, 2003, S. 23-31; in der Folge zitiert [Oechslin 2003]. Digitalisate von Scamozzis Idea von 1615 sind verfügbar unter: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/scamozzi1615bd1 (Band I) bzw. http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/scamozzi1615bd2 (Band II).

2 Cf. (Francesco Milizia), Le Vite de' piu celebri Architetti d'ogni nazione e d'ogni tempo..., Roma, 1768, S. 311. Milizia gehört zweifelsohne zu den schärften Kritikern Scamozzis und dessen Charakter; das führt ihn – in Zusammenhang mit Scamozzis Verhältnis zu Palladio – zu einer regelrechten Zurechtweisung: "Prese principalmente di mira Palladio, e credette superarlo col parlarne sempre con poca stima. Non si passa avanti agli uomini grandi nè col disprezzo, nè colla maldicenza; ma colla stima e col far meglio." (Id., S. 308)

3 Cf. Oechslin 1997, S. xxiv ff.

4 Cf. Orazio Lombardelli, Della Eccellenza Libri Due, Trattato, Firenze, 1578. Das Exemplar mit Scamozzis Namenszug und Postillen befand sich in der Bibliothek von Franz Pollack und ist über Basel in die Bibliothek eines bedeutenden Sammlers architektonischer Quellenwerke in Amsterdam gelangt.

5 Cf. Lombardelli, Della Eccellenza, S. 57. – Cf. Oechslin 1997, S. xxvi.

6 Heutige Lesart: "Architecti est...".

7 Cf. Vitruv I.I.1.

8 Cf. Vitruv I.I.2: "Itaque architecti, qui sine litteris contenderant, ut manibus essent exercitati, non potuerunt efficere, ut haberent pro laboribus acutoriatem; qui autem ratiocinationibus et litteris solis confisi fuerunt, umbram non rem persecuti videntur." – Auf diesen Passus beziehen wir uns auch im Folgenden wiederholt.

9 Cf. Daniele Barbaro, I Dieci Libri Dell'Architettura Di M.Vitruvio Tradutti Et Commentati..., Venezia, 1556, Proemio, S. 6.

10 Im Vordergrund steht das "fermamente fare, & operare drittamente, & con ragione fuori di se, cose utili alla vita"; das Machen ist in der äußeren Welt angesiedelt und deshalb nahe an die Erfahrung gerückt. Im Hintergrund steht Aristoteles' Definition der Architektur als "habitus faciendi vera cum ratione". – Vgl. unten.

11 Im Vorwort von Lodovico Roncone zur Serlioausgabe von 1584, dem Giovanni Domencio Scamozzi – zusammen mit seinem Sohn Vincenzo – den "Indice copiosissimo" hinzugefügt hat: cf. Tutte l'Opere d'Architettura di Sebastiano Serlio bolognese... Et un'Indice copiosissimo Raccolto per via di considerationi da Gio.Domenico Scamozzi, Venezia, 1584, o.S. – Vgl. Oechslin 1997, S. xxi.

12 Cf. Scamozzi, Idea, Proemio, I, S. 4: "Ma noi fuori di questa intentione, e di cotanto nome, sì siamo affaticati XLV. anni continoui, e col studio, e con la penna in mano, e con le peregrinationi." "E percio nello spacio di XXV. anni habbiamo posto insieme X.libri, per ridur in corpo intiero, & in tutte le sue parti compito, e perfetto intitolato l'Idea dell'Architettura...".

13 Vgl. Oechslin 1997, S. xi-xx.

14 Id. – Untertitel des zweiten Bandes: "Parte Seconda. Dell'Esquisitezza De'Cinque Ordini. E de loro Colonnati, Archi, Modonature più regolate; e delle Materie convenevoli all'edificare...".

15 Cf. Oechslin 1997, S. xvi.

16 Cf. Oeuvres d'Architecture de Vincent Scamozzi...traduites Par.Mr.Augustin Charles D'Aviler..., Leyden, 1713, S. 99. – Cf. Oechslin 1997, S. xiv.

17 Cf. Oechslin 1997, S. xi f.

18 Cf. Oechslin 2003, S. 25, Anm. 28.

19 Cf. Milizia, Le Vite, S. 310.

20 Vgl. dazu und im Folgenden: Werner Oechslin, "'Sottili ragioni' – i disegni palladiani per le edizioni vitruviane di Daniele Barbaro", in: Atti dei Convegni del Centro Studi Vitruviani Fano (2010/2011), im Druck.

21 Id. – Vgl. Barbaro, Vitruvio, Widmung an Kardinal Ippolito d'Este: "...al che essendomi io posto gia molti anni con amore, studio, e fatica non picciola, cercando da ogni parte aiuto e consiglio...".

22 Cf. Andrea Palladio, I Quattro Libri..., Venezia, 1570, Proemio à i Lettori, S. 6. – Vgl. Werner Oechslin, "'...fuggirò la lunghezza delle parole...'. Text und Bild in den Bearbeitungen Vitruvs", Akten der Konferenz Vitruvianismus. Ursprünge und Transformationen, Berlin, 2011, Publikation in Vorbereitung.

23 Vgl. Werner Oechslin, "Geometrie und Linie. Die Vitruvianische 'Wissenschaft' von der Architekturzeichnung", in: Daidalos, 1, 1981, S. 20-35.

24 Cf. Vitruv, I.I.3: "...in architectura haec duo autem insunt: quod significatur et quod significat. Significatur proposita res, de qua dicitur; hanc autem significat demonstratio rationibus doctrinarum explicata." – Barbaro, Vitruvio, S. 9: "...Ma per dichiaratione io dico, che significare è per segni dimostrare, & segnare, e imprimere il segno...".

25 Vgl. oben, Anm. 11; Oechslin 1997, S. xxi.

26 Cf. Angelo Fabrizi, "Vincenzo Scamozzi e gli scrittori antichi (Studio sui 'Sommari' inediti)", in: Studi Secenteschi, XVII, 1976, S. 101-152.

27 Sebastiano Serlio, Libri d'architettura, Venezia, 1551. Ein Digitalisat des von Scamozzi annotierten Exemplars ist online verfügbar unter http://scamozzi.zikg.eu/index.php?id=2.

28 Fabrizi, "Vincenzo Scamozzi e gli scrittori antichi", S. 108.

29 Cf. Bibl.Marc., Ms.It.IV. 128, S. 36.

30 Id., S. 49.

31 Id., S. 75.

32 Id., S. 115.

33 Id., nach S. 118.

34 Schon von Angelo Fabrizi hervorgehoben; Fabrizi, "Vincenzo Scamozzi e gli scrittori antichi", S. 115.

35 Cf. Scamozzi, Idea, Proemio, I, S. 1-4.

36 Id., S. 4. – Vgl. oben.

37 Id., S. 4.

38 Id., S. 1.

39 Cf. Barbaro, Vitruvio, Proemio, S. 6.

40 Cf. Scamozzi, Idea, Proemio, I, S. 1.

41 Cf. Barbaro, Vitruvio, Proemio, S. 6: "Nasce ogni Arte dalla Isperienza."

42 Cf. Scamozzi, Idea, Proemio, I, S. 1: "…scientiae species duae, cum una sit scientia tota...".

43 Id., S. 2.

44 Id., S. 2.

45 "Ars naturam adiuvans. EMBLEMA XCVIII.", vgl. Emblemata V. Cl. Andreae Alciati cum Imaginibus plerisque restitutis ad mentem Auctoris..., Padova, 1598, S. 175-176. Diese Ausgabe enthält die von Pignoria – gemäß dem Verleger Pietro Paolo Tozzi – verbesserten Kommentare von Claude Minois. Pignorias Lob Scamozzis findet sich unter den dem Proemio im ersten Band der Idea vorangesetzten "Elogij" (vgl. oben).

46 cf. Omnia Andreae Alciati V.C. Emblemata Cum Commentariis... Per Claud.Minoem, Paris, 1602, S. 454. – Später noch ausführlicher: Andreae Alciati Emblemata Cum Commentariis Claudii Minois... & Notis Laurentii Pignorii Patavini... Opera et Vigiliis Ioannis Thuilii Mariaemontani Tirol., Padova, 1621, S. 414-417.

47 Cf. Scamozzi, Idea, Proemio, I, S. 2.

48 Dass es ohne die Sinne nicht geht, ist seit Dürers Formulierung, gemäß der der Linie eine gewisse Ausdehnung gegeben werden müsse, damit man sie erkennen kann, eine bekannte Einsicht.

49 Cf. Scamozzi, Idea, Proemio, I, S. 2.

50 Id., S. 2.

51 Vgl. Oechslin 2003.

52 Cf. Scamozzi, Idea, Proemio, I, S. 3.

53 Vgl. unten.

54 Cf. Scamozzi, Idea, Proemio, I, S. 3.

55 Id., S. 5.

56 Id., S. 6.

57 Id., S. 6.

58 Id., S. 6.

59 Id., S. 7.

60 Cf. Leonbattista Alberti, De Re Aedificatoria, ed. Giovanni Orlandi, Milano, 1966, S. 7 (irrig: S. 2.).

61 Cf. Scamozzi, Idea, I, S. 83 ff. und S. 86 ff.

62 Id., S. 65.

63 Id., S. 66.

64 Id., S. 66.

65 Id., S. 52 ("Cap. XVI. Che cosa sia Fabrica, et Edificio...").

66 Id., S. 52.

67 Id., S. 70.

68 Id., S. 70.

69 Id., S. 24.

70 Id., S. 25.

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