RIHA Journal 0211 | 31 May 2019

Vorwort zum Special Issue „Prekäre Vergangenheit? Barockforschung im östlichen Mitteleuropa unter den Bedingungen des Sozialismus”

Eva Pluhařová-Grigienė

Abstract
The special issue “Precarious Past? Research on Baroque Art and Architecture in East Central Europe under Socialism”, edited by Michaela Marek (†) and Eva Pluhařová-Grigienė, originates from a conference held at Humboldt University of Berlin in 2014. In order to enhance a comparative approach to the still understudied field of art historiography under Socialism in Central and Eastern Europe, the six contributions focus on art historical writing on the Baroque era. This topic, due to its connection with the Church and aristocracy, had an ideologically precarious position within the confines of Marxism-Leninism. The papers highlight the complex relationship between the need to fulfill the new ideological requirements and persisting intellectual, personal, and institutional structures that preceded the communist takeovers.

Zum Themenheft “Prekäre Vergangenheit”

[1] Die hier versammelten Beiträge gehen auf das internationale Symposium „Asymmetrische Kunstgeschichte? Erforschung und Vermittlung ‘prekärer’ Denkmälerbestände im Kalten Krieg” zurück, das von der Professur für Kunstgeschichte Osteuropas des Instituts für Kunst- und Bildgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin im April 2014 ausgerichtet wurde. Das Symposium war Auftakt eines gleichnamigen kooperativen Forschungsprojekts mit Partnern aus Litauen, Polen, der Tschechischen Republik, der Slowakei und Ungarn.1

[2] Das Projekt wie auch die Veranstaltung widmeten sich der kritischen Revision von Kunsthistoriographien in der Ära des Kalten Krieges, die bis dahin kaum vergleichend und systematisch erforscht wurden.2 In der Ära des Sozialismus waren Baudenkmäler im östlichen Europa, die weder mit Volkskultur noch mit historischen Prozessen als Vorstufen der proletarischen Revolution in Verbindung gebracht werden konnten, mit einer doppelten Hypothek belastet. Kirchen, Klöster, Schlösser und Herrenhäuser unterlagen gewissermaßen einem ideologischen Generalverdacht, einerseits aufgrund ihrer historischen Funktion für Religion und ‘Feudalismus’, andererseits aufgrund der veränderten Grenzverläufe nach dem Zweiten Weltkrieg und den damit einhergehenden dramatischen Verschiebungen von Bevölkerungsgruppen, wobei der eine Aspekt den anderen verstärken konnte.

[3] Die historischen Wissenschaften wurden vor die Herausforderung gestellt, diese Denkmalbestände in das jeweils als eigen zu bestimmende nationale Kulturerbe und das zu modellierende sozialistische Geschichtsbild zu integrieren oder sie daraus auszugrenzen. Dies hatte Rückwirkungen auf einen Großteil des traditionellen Gegenstandsbereichs kunsthistorischer Forschung, der den ideologischen Anforderungen gemäß neu bewertet werden musste. Darüber hinaus beeinflusste diese Neuausrichtung die Erkenntnisinteressen und die Entwicklung der Methoden des Fachs. Im Kalten Krieg geprägte Werteordnungen wirken dabei bis heute nach.

J. Sege, Karikatur In einem alten Schloss, „Sie haben kein Recht hier zu wohnen! Sie sind nicht unsere Nachkommen! – Aber sie denken anders: Sie sagen, sie seien die Nachkommen derer, die dieses Schloss erbaut haben!”, in: Švyturys [Leuchtturm] 1950, Nr. 8 (32), S. 21

[4] Um für die Untersuchung dieser Prozesse einen komparativen Zugang zu ermöglichen, konzentrieren sich die hier vorgelegten Beiträge auf die kunstgeschichtliche Barockrezeption im östlichen Mitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg als einem ideologisch problematischen Forschungsfeld. Dieses wurde im Unterschied etwa zur Kunstgeschichte der Moderne oder des Mittelalters kaum für marxistisch-leninistisch orientierte kunsthistorische Ansätze genutzt. Die Historiographie zur Kunst des Barocks erscheint gerade deshalb für die Untersuchung der Entwicklung von Methoden und Erkenntnisinteressen geeignet.

[5] Mittlerweile wird der Erforschung der Kunsthistoriographien Mittel- und Osteuropas der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein nachhaltiges fachliches Interesse entgegengebracht.3 Michaela Marek (1956–2018) hat mit dem von ihr initiierten und gemeinsam mit mir und Renata Choinka realisierten Projekt „Asymmetrische Kunstgeschichte? Erforschung und Vermittlung ‘prekärer’ Denkmälerbestände im Kalten Krieg” dazu beigetragen. Leider konnte Michaela Marek ihren eigenen wichtigen Beitrag zu diesem Special Issue mit dem Arbeitstitel „Barock im Sozialismus: Strategien der kunsthistoriographischen Anpassung eines nonkonformen Kulturerbes”, der grundsätzliche Überlegungen zu den Parametern der kunsthistoriographischen Forschung auf diesem Gebiet anstellt, vor ihrem Tod im September 2018 nicht mehr fertigstellen. Trotz dieser Lücke möchten wir der Fachöffentlichkeit die Ergebnisse des Projekts nicht vorenthalten und somit Michaela Mareks Vermächtnis als Wissenschaftlerin, die zentrale Forschungsthemen erkannte, sie zu setzen wusste und Menschen dafür zusammenbrachte, ein Stück weit erfüllen. Andrea Lermer gilt mein besonderer Dank für die genaue wie geduldige redaktionelle Betreuung dieses Themenheftes.

Inhaltsverzeichnis

Marija Dremaitė
“Vilnius. A Baroque City”: Changing Perceptions of the Baroque Heritage During the Twentieth Century

Ivan Gerát
Die Jesuiten- und Universitätskirche in Trnava (Tyrnau, Nagyszombat) im Spiegel des kunsthistorischen Diskurses um und nach 1948

Vendula Hnídková
The Clementinum. A Baroque Monument in the Cold War

Karolina Jara andEmilia Kłoda
Art Historiography on the Main Building of the University of Wrocław – A Battlefield of Ideologies

Andrzej Kozieł
Under the Pressure of ‘Polonization’ Ideology: Renaissance and Baroque Art in Silesia in the Works of Polish Art Historians after 1945

Péter Rostás
Ideologische Positionen zur Problematik der Budapester Burgruine in den 1950er Jahren

Gastherausgeberinnen des Special Issues
Michaela Marek (†) und Eva Pluhařová-Grigienė (Hg.), Prekäre Vergangenheit? Barockforschung im östlichen Mitteleuropa unter den Bedingungen des Sozialismus, in: RIHA Journal 0211-0217.

Lizenz
The text of this article is provided under the terms of the Creative Commons License CC-BY-NC-ND 4.0

1 Das Projekt wurde von 2013 bis 2015 durchgeführt und großzügig von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien unterstützt. Für weitere Informationen s. https://www.kunstgeschichte.hu-berlin.de/forschung/laufende-forschungsprojekte/asymmetrische-kunstgeschichte/ (letzter Zugriff 9. Januar 2019). Weitere Ergebnisse sind veröffentlicht im Journal of Art Historiography 15 (Dezember 2016), special section „Baroque For a Wide Public“, hg. v. Michaela Marek und Eva Pluhařová-Grigienė, https://arthistoriography.wordpress.com/15-dec16/ (letzter Zugriff 26. Februar 2019).

2 Zu den Kunsthistoriographien in Mittel- und Osteuropa liegen Tagungsbände vor, die sich jedoch nicht schwerpunktmäßig mit der sozialistischen Zeit beschäftigen und keinen systematischen Vergleich vornehmen: Robert Born, Alena Janatková und Adam Labuda (Hg.), Die Kunsthistoriographien in Ostmitteleuropa und der nationale Diskurs, Berlin 2004; Jerzy Malinowski (Hg.), History of Art History in Central, Eastern and South-Eastern Europe, 2 Bde., Toruń 2012. Vgl. zur tschechischen Kunstgeschichte in der sozialistischen Zeit: Milena Bartlová, „Czech Art History and Marxism“, in: Journal of Art Historiography 7 (Dezember 2012), https://arthistoriography.files.wordpress.com/2012/12/bartlova.pdf (letzter Zugriff 26. Februar 2019). Vergleichende Ansätze verfolgen Robert Born, „World Art Histories and the Cold War“, in: Journal of Art Historiography 9 (Dezember 2013), https://arthistoriography.files.wordpress.com/2013/12/born.pdf (letzter Zugriff 11. Januar 2019), und Vardan Azatyan, „Cold-War Twins: Mikhail Alpatov’s A Universal History of Arts and Ernst Gombrich’s The Story of Art“, in: Human Affairs 19 (2009), no. 3, 289–296; vgl. zudem das von Katja Bernhardt und Antje Kempe herausgegebene Themenheft „(Dis)Kontinuitäten. Kunsthistoriografien im östlichen Europa nach 1945“, in: Kunsttexte.de/Ostblick 4 (2015) (letzter Zugriff 10. Januar 2019).

3 Eine Reihe von internationalen Treffen in den vergangenen Jahren zeugt von diesem Interesse: „Art historical research in context: teaching and exhibiting Modern Art before and after 1945“, organisiert v. RIHA – International Association of Research Institutes in the History of Art, 14.–16. Dezember 2014, am France Stele Institute of Art History in Ljubljana; „Politics, state power and the making of art history in Europe after 1945“, organisiert v. Universidad Autónoma de Madrid und Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid, 18.–20. Juni 2015; „Art history and socialism(s) after World War II: The 1940s until the 1960s“, organisiert v. Estonian Academy of Arts, Tallinn, in Kooperation mit dem Institute of Art History and Visual Culture at the Estonian Academy of Arts und der Humboldt-Universität zu Berlin, 27.–29. Oktober 2016, in Tallinn; „Socialist internationalism and the global contemporary – transnational art historiographies from Eastern and East-Central Europe“, organisiert v. Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) in Kooperation mit der Humboldt-Universität zu Berlin, 23.–25. November 2017, in Leipzig.