RIHA Journal 0184 | 30 May 2018

Special Issue „Mies und mehr … . Transferprozesse in Architektur und Wohnkultur der 1920er und 1930er Jahre“ – Einführung

Rudolf Fischer

Abstract
The Special Issue “Mies und mehr … . Transferprozesse in Architektur und Wohnkultur der 1920er und 1930er Jahre” focuses on new research perspectives on the architectural and interior design discourses of modernity. It questions the complex relationship between the process of artistic creation, the society and technology, while also considering the actors and networks implicated in the formation of the avant-garde modernism. The idea for this Special Issue comes from the 2016 international DFG-Project “Werkverzeichnis der Möbel und Möbelentwürfe Ludwig Mies van der Rohes” of the Zentralinstitut für Kunstgeschichte in Munich.


[1] Das Wort, daß auf der Welt nichts dauernd sei als der Wechsel, findet seine Anwendung auch auf unsere ästhetischen Anschauungen – wobei dieser Begriff nicht nur in seiner Beziehung zur 'Kunst' gebraucht werden soll, sondern in Beziehung zum menschlichen Gestalten jeder Art. In der Beurteilung dieses Gestaltens und in seiner Art überhaupt findet seit Menschengedenken eine ununterbrochene Umbildung statt, und zwar sind die Veränderungen teils solche, die den Bewegungen eines Pendels ähneln, das aus seiner Ruhelage abwechselnd links und rechts herausschwingt, teils solche, die sich als Weiterentwicklung nach einem bestimmten Ziele hin zu erkennen geben,

schrieb Hermann Muthesius 1902 in seinem berühmten Text „Die moderne Umbildung unserer ästhetischen Anschauungen“.1 Während die erste Art der Veränderung von Muthesius unter dem Begriff „Mode“ abgewertet wurde, waren „Weiterentwicklungen“ hingegen positiv besetzt und durch einen von den Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts bewusst gestarteten künstlerischen Prozess begründet.

[2] Muthesius war wie viele Reformer im ausgehenden 19. Jahrhundert auf der Suche nach einem neuen Stil, der nichts mehr zu tun hatte mit den historisierenden „Auswüchsen“ in Kunst, Architektur und Kunstgewerbe des späten 19. Jahrhunderts, sichtbar etwa in einem „Firlefanz von Türmchen, Giebeln und Erkern, die nicht ihren praktischen Zweck haben“.2 Das Avantgardeprojekt strebte eine „Entbürgerlichung“ der Kunst an; Protagonisten wie Muthesius, die das „menschliche Bilden in seiner Gesamtheit“ propagierten, forderten dementsprechend auch eine Enthierarchisierung der Kunstgattungen. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde beispielsweise mit den Deutschen Werkstätten für Handwerkskunst3 in Hellerau eine künstlerisch-gesellschaftliche Utopie von der Produktion von Kunst Realität, deren Ziele von der Entindividualisierung von Kunst4 bis hin zur Idee einer maschinellen Produktion von Kunst- und Designobjekten reichten. Für Muthesius bestand „eigentlich überhaupt keine Grenze für den Begriff Kunst mehr, denn diese Kunst dient zunächst und im Grunde ihres Wesens Nützlichkeitszwecken. Bereits ist es ja auch alltäglich geworden, auch das sogenannte Kunstgewerbe in die Kunst einzuschließen.“ Basis der neuen Auffassung, quasi des neuen Lebensgefühls, ist für Muthesius die Maschine: „[…] früher nur in geringem Umfange und in unvollkommener technischer Ausbildung dem Menschen bekannt, [...] von jetzt an einer der wichtigsten Begleiter der Menschheit.“5 Gestalterische Transformationsprozesse, Muthesius nennt sie „Umbildungen“, werden vor allem in den von Maschinen und Technik dominierten Bereichen evident. Treibende Kraft und auch Vermittler war eine neue Kunstbewegung um Muthesius, bestehend aus Künstlern und Unternehmen, die schließlich 1907 in die Gründung des Deutschen Werkbundes mündete.

[3] Diese Thesen wurden von Akteuren der Modernen Bewegung immer wieder aufgegriffen, nicht zuletzt durch das 1929 eröffnete Museum of Modern Art (MoMA) in New York. Dieses versuchte seit Beginn der dreißiger Jahre immer wieder, mit Ausstellungen die spektakulären Transferprozesse in Architektur und Design zu visualisieren.6 Dabei nahm es selbst Avantgardepositionen ein und definierte diese für einen nun offensichtlich internationalen Diskurs. Dies zeigen die von Philip Johnson kuratierten Ausstellungen, inhaltlich-konzeptuell in „Modern Architecture: International Exihibition“ (1932) oder gestalterisch im Ausstellungsdisplay von „Machine Art“ (1934). Johnson erlangte sein überaus detailliertes Wissen über das Neue Bauen auf seinen Deutschlandreisen. In Berlin zeigte er sich vom avantgardistischen Ausstellungsdesign Lilly Reichs und Ludwig Mies van der Rohes sehr beeeindruckt: Auf der Deutschen Bauausstellung 1931 sah er die von Reich mit puristischer Bestimmtheit gestalteten Displays in der von Mies van der Rohe geleiteten Abteilung „Die Wohnung unserer Zeit“. Offensichtlich ließ er sich davon für seine New Yorker Ausstellungen inspirieren.7

[4] Im Ausstellungskatalog von „Modern Architecture: International Exhibition“ stellte der MoMA-Gründungsdirektor Alfred H. Barr Jr. fest, Präsentationen und Ausstellungen haben den „Charakter der amerikanischen Architektur der letzten vierzig Jahre wahrscheinlich stärker verändert als irgendein anderer Faktor“.8 Sowohl auf dem Cover des Katalogs als auch auf der zeitgleich erschienenen Begleitpublikation The International Style, beide herausgegeben von Philip Johnson und Henry-Russel Hitchcock Jr., finden sich Abbildungen von Ludwig Mies van der Rohes Haus Tugendhat in Brno. Die neuen Werke von Mies van der Rohe, die zentral in der Ausstellung präsentiert wurden, schienen ideal, um die Umbildungsprozesse der Avantgardebewegung aufzuzeigen.

[5] Mies van der Rohes Stellung als beispielhafter Impulsgeber für die Avantgarde-Moderne steigerte sich in seiner US-Schaffensphase ab 1938 kontinuierlich. In der wiederum von Philip Johnson kuratierten und im September 1947 eröffneten „Mies van der Rohe“-Retrospektive wird Mies als in den USA (noch) wenig bekannter Mythos verhandelt: „Of all the great modern architects Mies van der Rohe is the least known.“9 Obwohl die Ausstellung vorrangig den ‚deutschen‘ Mies behandelt, wird der Übergang zum ‚amerikanischen‘ Mies bereits klar akzentuiert. Mies ist mit seinen Werken für das Illinois Institute of Technology (IIT) und den Promontory Apartments in Chicago und dem Farnsworth House bei Plano (Illinois) sowie mit seinem Projekt zum Resor House bei Jackson Hole (Wyoming) zu einem amerikanischen Architekten und Künstler geworden. Dies wird am klarsten ersichtlich im letzten Beispiel des Ausstellungskatalogs, in dem ein erweiterter Transferprozess offenkundig wird: In seinem collageartigen Entwurf zum „Project: Concert Hall“ fusionieren Kunst und Ingenieursgestaltung einzigartig in Mies'scher Architektur.10

Mies van der Rohe, Project: Concert Hall, 1942 (reproduziert nach: Philip C. Johnson, Mies van der Rohe, Ausst.kat., New York 1947, 180)

Mies verwendete für seinen Entwurf einer „Concert Hall“ von 1942 eine Fotografie einer Montagehalle von Albert Kahn. – Die Halle wurde für den Flugzeughersteller Martin in Baltimore zur Fertigung von Flugbooten errichtet. – Nur wenige Scheibenelemente von Mies genügen, um etwas ganz Neues entstehen zu lassen: Die Collage aus Graphitstift, bemaltem Papier und Gouache auf einem Silbergelatineabzug – mit einer eingeklebten Figur von Aristide Maillols La Mediterranée11 – generiert eigene, gewissermaßen transmediale Evidenzen: Der Innenraum einer Flugzeugfabrik wird zum Innenraum einer Konzerthalle.

[6] Alle vier in diesem Special Issue publizierten Aufsätze von Markus Eisen, Christian Freigang, María Ocón Fernández und Paul Weber stellen Beispiele nachhaltiger Veränderung im Bereich der Künste vor und tragen so zur Neudefinition der Avantgarde-Moderne bei. Die gewählten Modelle, Werke und Medien wirken im Bereich von gestalterischer und gesellschaftlicher Transformation, im Umfeld augenscheinlich ökonomisch inspirierter Netzwerke oder unter dem Blickwinkel von Rekursen und Kontinuitäten, welche festgeschriebene Zäsuren unterlaufen.

[7] Der MoMA-Kurator Edgar Kaufmann Jr. wählte in seinem 1953 erschienenen Büchlein What is Modern Interior Design? eine eigenwillige Art, Transferprozesse in Design und Architektur darzustellen.12 In Kapiteln wie „Comfort“, „Quality“, „Lightness“ und „Harmony“ versuchte er die zeitgenössische Moderne des Mid-Century-Designs aus der frühen Avantgarde heraus zu beschreiben. Er bewegt sich also durchweg im Feld der von Muthesius begründeten Avantgarde-Moderne ab 1900. Für Kaufmann gibt es jedoch keinen Stillstand der Moderne, denn „modern design is planning and making rooms suited to our way of life and our abilities, our ideals“. Dass Avantgarde kein abgeschlossenes Projekt ist, freilich gar nicht sein kann, wurde bereits 1902 von Hermann Muthesius konstatiert: „Alle Formen sind noch in einer heftigen Umbildung begriffen, ein allgemeines Gären und Brodeln macht sich geltend.“13 Eine Aufbruchsstimmung beschreibend, können die Zeilen auch als eine avantgardistische Interpretation künstlerischer Transferprozesse für die Zukunft gelesen werden.

Danksagung
Ein herzlicher Dankgeht an Magdalena Droste, Christoph Hölz, Otakar Máčel, Dietrich Neumann, Kerstin Renz und Helmut Reuter für ihre konstruktiven Stellungnahmen im Vorfeld der Publikation sowie an Evgèniya Makarova für die Übersetzung der Abstracts.

Gastherausgeber des Special Issues
Rudolf Fischer (Hg.), Mies und mehr … . Transferprozesse in Architektur und Wohnkultur der 1920er und 1930er Jahre, in: RIHA Journal 0184-0188.

Lizenz
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1 Hermann Muthesius, „Die moderne Umbildung unserer ästhetischen Anschauungen“ (1902), in: Theorien der Gestaltung, hg. v. Volker Fischer und Anne Hamilton, Frankfurt am Main 1999, 99-112, hier 105.

2 Rheinischer Verein für Denkmalpflege und Heimatschutz, „Vorwort“, in: Mitteilungen des Rheinischen Vereins für Denkmalpflege und Heimatschutz 4, H. 1: Industriebauten (1. März 1910), 5-6, hier 6; vgl. zur Kontextualisierung auch Rudolf Fischer, Licht und Transparenz. Der Fabrikbau und das Neue Bauen in den Architekturzeitschriften der Moderne, Berlin 2012, 12.

3 Vgl. Marco De Michelis, Heinrich Tessenow 1876 – 1950. Das architektonische Gesamtwerk, Stuttgart 1991, 13-39.

4 Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Göttingen 2017, 64-69.

5 Muthesius, „Die moderne Umbildung unserer ästhetischen Anschauungen“, 107.

6 Barry Bergdoll, „Modernists Abroad – ‚Modern Architecture: International Exhibition‘“, in: Partners in Design, hg. v. Davis A. Hanks und Friedrich Meschede, Stuttgart 2017, 137-147, und Juliette Kinchin, „Machine Art. Elemente einer neuen Schönheit“, in: Partners in Design, hg. v. Davis A. Hanks und Friedrich Meschede, Stuttgart 2017, 149-175.

7 Johnson verfasste einen Kommentar für die New York Times vom 09.08.1931, vgl. Philip C. Johnson, Writings, New York 1979, 49. Zu Johnsons Begeisterung für die Ausstellungsdisplays von Reich und Mies vgl. Charlotte Klonk, Spaces of Experience. Art Gallery Interiors from 1800 to 2000, New Haven und London 2009, 159.

8 Zitiert nach Bergdoll, „Modernists Abroad – ‚Modern Architecture: International Exhibition‘“, 138.

9 Philip C. Johnson, Mies van der Rohe, Ausst.kat., New York 1947, 7.

10 Johnson, Mies van der Rohe, 180.

11 In einer späteren (nicht im MoMA-Katalog von 1947 abgebildeten) Fassung ist die Figur eines altägyptischen Schreibers (von Mary Callery) eingeklebt. Beide Fassungen siehe: Mies van der Rohe. Montage, Collage, Ausst.kat., hg. v. Andreas Beitin, Wolf Eiermann und Brigitte Franzen, London 2017, 160-163.

12 Museum of Modern Art New York (Autor: Edgar Kaufmann Jr.), What is Modern Interior Design?, New York 1953. Das Booklet ist entstanden aus der MoMA-Ausstellung „Modern Rooms of the Last Fifty Years“ (26.11.1946–26.01.1947).

13 Muthesius, „Die moderne Umbildung unserer ästhetischen Anschauungen“, 109.