RIHA Journal 0186 | 30 May 2018

Mies van der Rohe, der Werkbund und die Frage der Technik um 1930

Christian Freigang

Abstract
This paper examines the ways Mies van der Rohe has dealt with the phenomenon of mechanization of all areas of human life, that ever since the mid-twenties was becoming an increasingly controversial political issue. Building on a number of philosophical essays on the role of modern large-scale technology, especially those by Friedrich Dessauer, Mies advanced a strategy that can be described as the aesthetic transcendence of industrially-produced technical items. By positioning his architecture in this manner, he warded off all accusations of purely economically-motivated rationalism. What Mies considered to be a “spiritual” approach to architecture has also defined the program of the Werkbund that he presided at that time and has laid the foundation for his postwar work.

Die Krise

[1] Auf der Jahresversammlung des Bundes Deutscher Architekten im Jahr 1931 hielt dessen Vorsitzender, der renommierte Architekt Hans Poelzig, einen langen, gut besuchten und offenbar emphatisch aufgenommenen Vortrag mit dem knappen Titel „Der Architekt“.1 Es handelte sich um eine grundsätzliche Positionsbestimmung der Architektur. Diese müsse Abschied nehmen von der Fetischisierung des Technischen, wie dies über die zwanziger Jahre gegolten habe. Der Architekt habe sich wieder auf die sinnstiftende Aufgabe des Bauens zu konzentrieren, das als „symbolische Form“ die Technik nur als Organ, als Hilfsmittel, und nicht als Selbstzweck einsetzen dürfe. Technisch virtuose Lösungen würden gleichwohl zunehmend in einem ornamentalen Sinn, aber in unsachlicher Weise eingesetzt, wie das etwa für funktional und ökonomisch unsinnige riesige Fensteröffnungen gelte. Um aber wieder zu einer neuen Symbolhaftigkeit der Architektur zu gelangen, sei nicht ein neuer Klassizismus, wie er von einigen Architekten versucht werde, die Lösung dieses Dilemmas, sondern eine neue Klassik, ein wie auch immer geartetes Zusammenstimmen von Form und Inhalt. Architektur als Kunst müsse Raumschöpfungen, nicht bloße Wohnmaschinen kreieren, um zur „Steigerung des seelischen Lebens“ beizutragen. Das Ornament müsse als ein aus dem Bau selbst generiertes ebenfalls von symbolischer Qualität sein, so wie sich alle Künste am „Raumorchester“ der Architektur beteiligen sollten – die reine technische Form hingegen sei bloß atonal.

[2] Hier sind eine Reihe von Denkfiguren auszumachen, die in vielen Facetten in der zeitgenössischen Architekturdebatte der späten zwanziger Jahre in Europa wiederzufinden sind: die Ablehnung des rein Technischen, das neue Bekenntnis zum Klassischen, das demiurgische, antidemokratisch gefärbte Selbstverständnis des Architekten. All dies gibt der Tendenz Ausdruck, einseitige technokratische Legitimationsprinzipien des Bauens außer Kraft zu setzen. Umgesetzt hat Poelzig dies wie viele andere vermittels einer Architektur, die großformig reliefiert und hierarchisch gegliedert ist und die die sinnliche Erfahrung der baulichen Hülle mit der technisch fortschrittlichen Konstruktion des baulichen Kerns verbindet, wie etwa an seinem Frankfurter IG Farben-Gebäude oder dem Berliner Rundfunkgebäude zu veranschaulichen.2 Eine solche traditionsbewusste, sich aus den Aporien eines einseitig technokratisch verstandenen Funktionalismus wie auch eines unreflektierten Historismus befreiende Position gab damals die Option schlechthin für eine zeitgemäße Architektur ‚nach der Moderne‘ ab (Abb. 1-2).

1 Hans Poelzig, IG Farben-Gebäude, Frankfurt a.M., 1928-1931, Außenansicht (Foto: Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt/M.)

2 Hans Poelzig, IG Farben-Gebäude, Frankfurt a.M., 1928-1931, Ansicht des Stahlskeletts (Foto: Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt/M.)

Der Pavillon der Technik

[3] Angesichts dieser Diskurse und Positionsbestimmungen ist es erstaunlich, dass der vorgeblich offizielle, in Wirklichkeit aber weitgehend privat – nämlich durch den IG Farben-Aufsichtsratsvorsitzenden Georg von Schnitzler – finanzierte Beitrag3 der Weimarer Republik zur Weltausstellung in Barcelona im Jahre 1929 eine Architektur war, die ein eindeutiges Bekenntnis zur internationalen modernen Architektur, und zwar in einer radikalen Abstraktion, zu signalisieren schien. Bekanntlich stellt der von Mies van der Rohe errichtete, eingeschossige Ausstellungspavillon nicht das Exempel einer eingeführten Baugattung, etwa einer modernen Villa, dar, sondern bietet sich gleichsam als absolute, von allen funktionalen und bauphysikalischen Aspekten freie Konstruktion, errichtet allein zum Verweilen und Sehen (Abb. 3-4).4

3 Mies van der Rohe, Deutscher Pavillon,Barcelona, 1929, Grundriss (nach: Die Form 4 [1929], 424)

4 Mies van der Rohe, Deutscher Pavillon, Barcelona, 1929, Ansicht (nach: Die Form 4 [1929], 425)

Auf einem flachen, plattierten Sockel erheben sich Wandstücke aus kostbaren Materialien – Marmor und Glas –, überdeckt von einer flachen, von acht Stahlstützen getragenen Dachplatte; an der Schmalseite schließt sich eine lange Terrasse mit großem Bassin an. Die rektanguläre Grundrissanordnung erzeugt verschiedene Blickachsen, Durchblicke und Spiegeleffekte, so dass der Pavillon als radikale Konkretisierung eines ‚fließenden‘, in der Bewegung zu erfassenden Raumes gilt, der traditionelle Begriffe von architektonischer Proportionierung und baulicher Einheit, von Raumgrenzen und Umhüllung aufhebt.

[4] Trotz aller bautypologischen Unterschiede zwischen dem Verwaltungsgebäude und dem Ausstellungspavillon kann man Zusammenhänge zwischen beiden Architekturen benennen. Zunächst auf einer vordergründigen Ebene: Als der eigentliche Initiator des IG Farben-Gebäudes wie auch des Ausstellungspavillons agierte der Aufsichtsratsvorsitzende der IG Farben, Georg von Schnitzler, der faktisch den Beitrag zur Weltausstellung sogar aus eigener Kasse bezahlte.5 Auch in der grundsätzlichen Konzeption beider Werke gibt es aber eigenartige Koinzidenzen, die von der kühnen, mit kostbaren Materialien verkleideten Stahlskelettkonstruktion über die Verwendung riesiger Glasflächen und neuer Oberflächeneffekte – wie etwa der aluminiumeloxierten Decke der IG Farben-Ausstellungsrotunde – bis zur Anlage eines flachen Wasserbassins mit isoliert platzierter weiblicher Aktskulptur in klassizistischem Idiom reichen.

[5] Doch sind diese äußerlichen Übereinstimmungen durch grundsätzlichere Aspekte zu ergänzen. Zu nennen ist zunächst der Aspekt der anspruchsvollen technischen Konstruktion: Poelzigs Gebäude stellte eine der größten und aufwendigsten Stahlskelettkonstruktionen in Europa dar. Bei Miesʼ Pavillon ist ein besonderes Augenmerk auf eine subtile Gestaltung der Stützen gelegt (Abb. 5).

5 Deutscher Pavillon, Barcelona, 1929, Querschnitt der Stütze (nach: Kenneth Frampton, Grundlagen der Architektur. Studien zur Kultur des Tektonischen, München und Stuttgart 1993, 191)

Bei deren technischem Aufbau handelt es sich jeweils um vier kreuzförmig vernietete Winkeleisen, die zwischen sich jeweils ein T-Profil mit schmalem Flansch einschließen. Dieser Stützenaufbau zählt zu den immer wieder von der Forschung analysierten Strategien einer Umsetzung tektonischer Paradigmen in die Moderne: Eine Stahlstütze, deren Durchgestaltung sich an der antiken Säule messen lassen kann.6 Übersehen wurde dabei allerdings der Rückbezug auf aktuelle technische Verfahren: Mies übertrug nämlich eine im Industriebau übliche Versteifungstechnik mit symmetrisch angeordneten industriellen Walzprofilen auf den Einzelwohnhausbau – der Barcelona-Pavillon ist ja auf bautypologischer Ebene am ehesten eine Art Bungalow – , wie etwa anhand eines zeitgenössischen Beispiels einer komplizierten, sehr belastungsfähigen Stütze für ein erdbebensicheres Bankgebäude veranschaulicht werden kann (Abb. 6).7

6 Erdbebensicheres Bankgebäude, Tokio, 1927, Stütze (nach: Die Bautechnik. Fachschrift für das gesamte Bauingenieurswesen 5 [1927], 628)

[6] Die kreuzförmige Kombination von Kreuz- und Winkelprofilen ist hier eines der technischen Prinzipien. Insofern ist die Barceloneser Stütze weniger eine ästhetische Fingerübung, als eine Abwandlung konkreter aktueller Stahlbautechnik, selbst wenn die Anwendung auf einen vergleichsweise bescheidenen Ausstellungspavillon höchst unverhältnismäßig erscheint. Gleichwohl fügt sich der Pavillon mit dem Rekurs auf den Stahlbau in eine Reihe zeitgleicher Experimente ein, den Stahlskelettbau nicht nur im Industrie- und Verwaltungsbau, sondern auch im Wohnhausbau anzuwenden, um damit noch weiter als bisher Fenster- und Lichtöffnungen zu vergrößern, rationelle Montageprinzipien und vieles mehr zu erproben. Mies selbst hatte in solcher Konstruktionstechnik seinen Appartementblock in der Weißenhofsiedlung in Stuttgart errichtet, die Brüder Luckhardt experimentierten damit etwa in ihrer Hausreihe und dem Atelierbau in der Schorlemerallee in Berlin, weitere Beispiele lassen sich gerade aus den Jahren seit 1928 nennen.8

[7] Der Unterschied des Barcelona-Pavillons zu den meisten anderen Versuchshäusern, etwa den genannten der Brüder Luckhardt in Berlin, liegt zunächst darin, dass die Stützen nicht im Sinne eines Fachwerks eingesetzt sind, das im ausgefachten und verputzten bzw. verkleideten Zustand in der Wandflucht verschwindet. Gemäß der äußeren Gestalt des Konstruktionssystems erscheint bei Mies die Wand gänzlich als Füllung aus dem Stützzusammenhang entfernt, gleichsam frei flottierend, und von einer banalen bauphysikalischen und nutzungsgemäßen Raumisolierung aus Backstein o. ä. zu einer Marmor- oder Glaswand nobilitiert. Ferner setzt Mies auch nicht ökonomische und technisch relativ einfach zu handhabende Stahlprofile ein, wie sie bei den anderen Stahlversuchsbauten zumeist in Form von Doppel-T- oder U-Profilen zur Anwendung kamen. Statisch reichten diese allemal, zudem ging es bei den Experimentallösungen in erster Linie um die Überprüfung der Montageeigenschaften, des bauphysikalischen Verhaltens, der Wirtschaftlichkeit usw. Miesʼ Stütze ist technisch unnötig kompliziert, rekurriert auf statisch aufwendiges Ingenieurswerk und präpariert dieses gleichsam aus dem architektonischen Ensemble heraus.

[8] Als Drittes kommt hinzu: Mies transformiert nicht nur die ansonsten architektonisch banalen Wände als Raumgrenzen zu solitären und materiell kostbaren Paravents bzw. Scheibenobjekten. Auch die Stützen werden in vergleichbarer Weise nobilitiert. Sie sind mit hochglänzendem verchromtem Stahlblech umhüllt, das dem kreuzförmigen Querschnitt der Stütze folgt. An den Kreuzenden sind vertikale Bänder vorgelegt. Durch diese wellenförmige Umhüllung und die lisenenartigen Leistenvorlagen wird – das hat man wiederholt betont – die Erinnerung an eine klassische kannelierte Säule aufgerufen. Vor allem muss man aber hervorheben, dass das Verchromungsverfahren, 1924 patentiert und 1927 veröffentlicht, damals ein völlig neues Verfahren darstellte, das primär zur technischen Metallveredelung eingesetzt wurde.9 In der elektrolytischen Verfahrensweise bestehen unmittelbare Verwandtschaften zur galvanischen Technik von Versilberung und Vergoldung. Die dezidiert technisch konzipierte Stütze wird also in einem sehr bewussten Akt transformiert zu einem Schmuckgegenstand, der aber nicht mobiler Nippes ist, sondern seinen architektonisch fest definierten Platz einnimmt.Dies gilt umso mehr, als die Stützkonstruktion mit ihren beiden Reihen von je vier Pfosten und dem darüber aufliegenden Dach von perfekter Regelmäßigkeit und Symmetrie ist, was nicht ohne Grund Anlass dazu gegeben hat, hier die Grundform des antiken Tempels wiederzuerkennen.

[9] Doch die Bedeutung der verchromten Stütze geht noch weiter,denn die riesigen Glasflächen sind ebenfalls mit verchromten Rahmenleisten eingefasst. Auch diese immensen Paneele und ihre Einfassungen resultieren aus der Anwendung modernster Präzisionstechnik. Die Rahmenleisten bilden also luxuriös-kostbare Einfassungen der hier auf den unterschiedlich behandelten Oberflächen entstehenden Durchblicke, Spiegelungen und Leuchtschirme. Der Bezug zwischen den Rahmen und den Stützen geht soweit, dass die Kreuzarme der Stützen sich in ihren Dimensionen der Dicke der Glasrahmen angleichen, die Stütze gleichsam als aus vier Rahmenstäben zusammengesetzt erscheinen könnte.

[10] Dank der verchromten Leisten entsteht ein räumlich komplex gestaffeltes Rahmensystem, das Bilder, Spiegelungen, Marmoroberflächen und nicht zuletzt Georg Kolbes Skulptur im Wasserbassin im hinteren Teil der Anlage einfasst, skandiert und rhythmisiert. Dieses lässt im Auge des Rezipienten kompositorische Struktur entstehen und erproben, die nicht allein einer objektiven Ordnung der Architektur geschuldet ist. Ganz entsprechende Kompositionen, in denen sich die Vertikalelemente einander angleichen, spielt Mies auch in den vorbereitenden Skizzen für den Barcelona-Pavillon durch. Die Flächen- und Linienstrukturen werden dabei gerade auch durch Spiegelungen, Schattenlinien und Negativeffekte gebildet, wie dies etwa auf der berühmten Zeichnung im Mies van der Rohe-Archiv im MoMA in New York zu sehen ist (Abb. 7) und am ausgeführten Bau deutlich manifest ist bzw. in Fotografien inszeniert wurde.10

7 Mies van der Rohe, Entwurfszeichnung für den Barcelona-Pavillon, 1928/29. New York, Museum of Modern Art (nach: Mies in Berlin. Ludwig Mies van der Rohe, die Berliner Jahre 1907-1938, hg. v. Terence Riley und Barry Bergdoll, Ausst.kat., Berlin 2001, 240)

Die verchromten Stahlrahmen stehen in ihrem materiellen Charakter dabei zwischen den massiven, auf Oberflächenreize und Farbmuster berechneten, beleuchteten bzw. schattenden Marmorwandstücken zum einen und den in verschiedensten Durchlässigkeiten behandelten immateriellen Glasflächen zum anderen. Die Chromstützen und -rahmen oszillieren je nach Beleuchtung zwischen hoher taktiler Qualität und einer Verleugnung ihrer kruden Materialität, die durch ihre spiegelnde Oberfläche erreicht wird.

[11] Die prinzipielle Strategie von Mies, technische Konstruktion ebenso resolut wie subtil zu nobilitieren und auf andere Bedeutungsebenen zu heben, ist bekanntlich ein Leitthema des Architekten, das spätestens mit dem vom ihm eingerichteten Glasraum der Stuttgarter Weißenhofausstellung 1927 manifest wurde und in der Villa Tugendhat 1928-30 einen weiteren Höhepunkt erlebte.11 Die Spezifik im Umgang mit technischen Möglichkeiten lässt sich vor allem im Vergleich mit den Konzepten der anderen Leitfigur der Moderne, Le Corbusier, verdeutlichen. Denn man kann die Auffassungen vom fließenden Raum bei Mies mit dem Ideal der „promenade architecturale“ bei Le Corbusier vergleichen, auch das Oszillieren von Außen- und Innenraum ist selbstverständlich im Werk beider Architekten zu konstatieren, und diese Innovationen wurden maßgeblich durch moderne Konstruktionsverfahren ermöglicht. Ebenso gibt es die nach innen in den Wohnraum verlegte Stahlstütze auch bei dem französischen Wortführer der Moderne. Dieser hatte sie markant gerade auch bei seinen beiden Wohnhäusern für die von Mies konzipierte Werkbund-Mustersiedlung auf dem Weißenhof in Stuttgart angewandt (Abb. 8).

8 Le Corbusier, Doppelhaus in der Weißenhof-Siedlung, Stuttgart, 1927, Stütze im Erdgeschoss (Foto: Thomas Wolf, Gotha, nach Georg Adlbert [Hg.], Le Corbusier/Pierre Jeanneret. Doppelhaus in der Weißenhofsiedlung Stuttgart, Stuttgart 2006, 152)

Doch bleibt diese Stütze ein nicht weiter gestaltetes, banales Ingenieurswerk: Im Fall des Doppelwohnhauses besteht sie aus zwei einander zugewandten U-Profilen, die durch aufgeschraubte Platten in regelmäßigen Abständen miteinander verbunden sind. Das provokante Eindringen des offensichtlich rein pragmatisch Technischen in den Bereich des Privaten gesellt sich bekanntlich zu der gerade für das Doppelhaus mit seinen Schiebebetten vertretenen Metapher des Hauses als technischem Gerät, einem Schlafwagen vergleichbar. Beides machte gerade im Zuge der Weißenhofausstellung Le Corbusiers Parole von der effizient funktionierenden Wohnmaschine zum weitgehend negativ besetzten Argument gegen die Moderne – und dies eben nicht nur im Kontext der populistischen Tagespresse und konservativen Öffentlichkeit, sondern implizit auch für Kontrahenten wie Mies.

Ordnung und Technik

[12] Dieser differierende Umgang mit der Technik im Bauen ist indessen in dem größeren Zusammenhang mit einer sich im Laufe der 1920er Jahre verändernden Einstellung gegenüber der Technik als dem entscheidenden, unausweichlichen und omnipräsenten Mittel der modernen Weltdurchdringung und Lebensorganisation zu sehen. Sieht man zunächst die Äußerungen von Mies van der Rohe zum Zusammenhang zwischen Konstruktion und Architektur durch, so konstatiert man deutliche Veränderungen um 1926/27. Bis zu diesem Zeitpunkt fügten sich seine Statements durchaus in die Rhetorik einer „rationalistischen“ Moderne, die soziale Funktionalität und produktive Logik in optimistischer Weise zu den wesentlichen Kriterien des architektonischen Entwurfs rechnet.12 Um 1927 wird diese Technikbegeisterung überlagert von Zweifeln an der bloß pragmatisch-ökonomischen Zweckrationalität. Zeitlich geht dieser Wandel mit der Ernennung Miesʼ zum stellvertretenden Vorsitzenden des Werkbundes und Leiter der Weißenhofausstellung einher. Insbesondere in dem 1928 in der Berliner Kunstbibliothek und anschließend in vielen weiteren Städten gehaltenen Vortrag „Voraussetzungen baukünstlerischen Schaffens“ wird die neue Position deutlich.13 Baukunst sei eben nicht nur ein technisches Problem, sondern der „räumliche Vollzug geistiger Entscheidungen“. In die Zeiten von Anarchie und Unordnung solle nunmehr der Gedanke der Ordnung Eingang finden. Dies gelte vor allem für den Umgang mit der Technik, die, entstanden aus der (praktischen) Anwendung von Naturwissenschaft zum Zwecke der Beherrschung der Natur, nunmehr eine nicht zu zügelnde Herrschaft angetreten habe. Die ordnungsstiftende Eindämmung dieses Eindringens der Technik in die menschliche Gemeinschaft sei aber nicht durch die Rückwendung zur Vergangenheit zu erreichen, sondern durch eine „reifere, geistigere Wissenschaft“, die fähig sei, das „Bewußtsein zu steigern“, und damit zur „neuen Freiheit“ führe.14

[13] Trotz der unspezifischen Begrifflichkeit Miesʼ weiß man seit der kritischen Veröffentlichung seiner Schriften, dass sich der Architekt hier teilweise wortwörtlich auf zeitgenössische Autoren, vor allem Romano Guardini und Friedrich Dessauer, bezieht, die das Problem der Technik in der Moderne eben in diesen Jahren tiefgreifend analysiert hatten. Der allgemeine Hintergrund derartiger Äußerungen ist eine im Laufe der zwanziger Jahre wachsende Skepsis gegenüber den zunehmenden Auswirkungen der Technisierung der Lebenswelt. „Technik“ heißt in diesem Zusammenhang nicht nur allgemein eine zielgerichtete, sachgemäße Fertigkeit des Menschen zur Umwandlung von Stoffen, sondern meint den Sammelbegriff des maschinell-instrumentell Verfügbaren und industriell großmaßstäblich Angewandten. In diesem Sinne greift Technik massiv in Erde und Natur ein, verändert Fortbewegung und körperliche Verfasstheit, betrifft sogar soziale Bezugssysteme und moralisches Verhalten. Technik ist im Zuge der Modernisierung ein alltägliches, aber fast undurchdringbares Instrumentarium der Lebensbewältigung weitgehend anonymer Kollektive geworden, das indes die Entfernung des Menschen von natürlicher Bedingtheit radikal vergrößert hat. Diese Schlüsselstellung der Technik in der Moderne ist in Deutschland vor allem während der zweiten Hälfte der 1920er Jahre allgemein und durchdringend ins Bewusstsein getreten. Zahlreiche, zum Teil gewichtige Abhandlungen, etwa von Paul Tillich, Karl Jaspers oder Oswald Spengler, attestieren die Virulenz der Frage, die wohl am besten mit der heutigen Digitalisierungsdebatte zu vergleichen ist. Eine scharf formulierte Technikskepsis bildet insoweit ein entscheidendes Argumentationsmoment bei dekadentistischen Autoren und Kulturkritikern und beeinflusste in hohem Maße auch die Architekturdebatte. Die regionalistischen und rassistischen Modelle eines Schulze-Naumburg oder Schmitthenner verstehen sich entsprechend als vitalistische Überwindung einer unbeseelten, den Menschen von seinen Wurzeln entfremdenden Technik als Hauptmoment des Bauens. Dabei muss man betonen, dass die Frage, wie mit der Technik umzugehen sei, innerhalb der Architekturdebatte nicht etwa bloß eine Neuauflage des fachinternen Konflikts zwischen dem künstlerisch beseelten Architekten und dem kalt rechnenden Ingenieur war: Die Frage der Technik am Ende der 1920er Jahre ist weit umfassender.

[14] Grundsätzlich geht es dabei um einen als fatal wahrgenommenen Antagonismus: Der aktiv betriebenen, gottähnlichen Naturbeherrschung in der perfekten Anwendung der Naturwissenschaft auf der einen Seite steht die totale, nicht mehr von Politik und Religion bzw. den einzelnen Individuen zu kontrollierende Determination von Lebens- und Gesellschaftszusammenhängen auf der anderen Seite gegenüber. Während Autoren wie Spengler den Akzent auf das entfremdende, ja gar angeblich von feindlichen Mächten gesteuerte zweite Moment legen, versuchen die von Mies intensiv rezipierten Autoren diesen grundsätzlichen Konflikt zu überwinden.15 Das gilt zunächst für den katholischen Religionsphilosophen, Liturgiereformer und Inspirator des Kirchenarchitekten Rudolf Schwarz, Romano Guardini. In den Briefen vom Comer See von 1927, später unter dem Titel Der Mensch und die Technik erschienen, konstatiert er eine beständige Umgestaltung der Natur durch den Menschen.16 Diese werde im Laufe der Zeit stufenweise abstrakter, in abgeleiteten Begriffen und mathematischen Gesetzen erfasst und umgestaltet. Damit gehe eine zunehmende Entfremdung von der ‚Natur‘ einher, die im Übergang zur Technik als jüngstem Schritt in geistlose Ersatzwelten, in eine Welt der Zeichen führe. Nur das Bewusstsein von diesen Zusammenhängen und eine „Durchgeistigung“ des Technischen, „ein neues Menschentum [...] von tieferer Geistigkeit, neuer Freiheit und Innerlichkeit, neuer Geformtheit und Formungskraft“, könne aus ungeheuren Rohstoffen wieder geordnete ‚Welt‘ erschaffen. Die Vorboten dazu sieht Guardini interessanterweise allein in neuen Architekturen,

in denen das technische Gebilde zu wirklicher Form bewältigt ist. Diese Form ist nicht von außen herangebracht, sondern kommt aus dem gleichen Ursprung wie das technische Gebilde selbst, so wahr und echt und selbstverständlich, daß die Meinung entstehen konnte, eine richtig konstruierte Maschine und ein vollkommen zweckmäßig gebautes Haus seien eben dadurch bereits künstlerisch geformt – was natürlich ein Fehlschluß war, denn die bloße technische Richtigkeit ist noch nicht künstlerische ‚Form‘.17

Das richtet sich einerseits überdeutlich gegen Le Corbusiers „Wohnmaschine“, der diese wissende Sublimierung der Technik fehlt, und gibt andererseits eben den Argumentationsstrang vor, den Mies aufgreift: Der Architekt habe die technische Form aufzunehmen und in eine höhere Ordnung zu transzendieren.

[15] Nähert sich bei Guardini die Beherrschung der Technik dem bewussten künstlerischen Gestalten nur an, so ist diese Verknüpfung etwa bei dem evangelischen Religionsphilosophen Paul Tillich und insbesondere im Werk des Chemikers, Publizisten und Zentrumpolitikers Friedrich Dessauer eingehend formuliert.18 In seinem Hauptwerk Philosophie der Technik. Das Problem der Realisierung von 1927 wendet sich Dessauer entschieden gegen die populistische und dekadentistische Dämonisierung der Technik.19 Er begreift sie vielmehr als eine absolut gesetzmäßige Potenzierung von Naturgesetzen, die in einer zielgerichteten Neukombination eine übergeordnete Natur realisierten. Dessauer postuliert eine riesige, aber zahlenmäßig endliche Kombination möglicher technischer Lösungen, die von Anfang an im Kosmos enthalten seien und einen eigenen Metakosmos darstellten. Dem Techniker obliege es also, die latent vorhandenen „Ideen“ zu objektivieren, somit in die lebensweltliche Konkretion treten zu lassen. Deren perfekte und absolute Gesetzmäßigkeit habe die Qualität von Schönheit: „Vollendete Zweckmäßigkeit, vollendete Technik, vollendeter Sieg des Geistes über die Form hat die Qualität der Schönheit.“20 Damit ist die Vision einer perfekten Vollendung der Weltschöpfung verbunden, die angesichts der prinzipiell auf das Wohl des Menschen gerichteten guten Zweckhaftigkeit der Technik auch das Moment ihrer schönen ästhetischen Wahrnehmbarkeit enthält.

Die Anlage eines technischen Objektes, ästhetisches Empfinden hervorzubringen, scheint ihre Wurzel in demselben Urgrund zu haben, aus dem der autonome Wert entsteigt. Dieser Urgrund ist die Durchgeistigung der Form in Anschauung des Zweckes. Wenn der Sinn durch alle Formen hindurchrieselt, hindurchleuchtet, wenn der Stoff durchglüht, transparent ist von dem in ihn eingezogenen Geist, wenn dieser Geist Rhythmus der bewegten Glieder, Verteilung der Masse, Farbe, Gestalt ist, so daß die Vielheit einer letzten Einheit sich fügt, dann enthält das technische Gerät die objektive Wurzel für das ästhetische Erlebnis. In diesem Urgrund ist auch die Gliederung der Räume eines Wohnhauses, auch die Farbe und ihre Abstimmung, im Grunde schon enthalten.21

Der Architekt als Techniker spielt also eine eminente Rolle, denn erst in der ästhetisch perfekten Wahrnehmbarkeit ist die prästabilierte Idee der Technik wirklich erreicht. Dessauer lieferte das entscheidende argumentative Instrumentarium, um den alten Konflikt zwischen Architekt und Ingenieur auf einer neuen Ebene zu lösen.

[16] Schien dieser Konflikt im Verlauf der zwanziger Jahre insoweit lösbar, als Technik und Rationalisierung in die architektonische Konzeption integriert wurden, so begann zur gleichen Zeit eine neue, oben angedeutete Technikverdammung den neuen Architektentypus auf gesellschaftlicher und politischer Ebene zu diskriminieren. Gerade für den Werkbund, dessen zweiter Vorsitzender Mies 1926 geworden war, bildete dies ein wesentliches politisches und institutionelles Problem. Die ästhetische „Durchgeistigung“ des Technischen als Vollendung der Weltschöpfung, wie Dessauer sie formulierte, bot sich insofern an, um zu einem neuen Selbstverständnis zu gelangen. Der Werkbund verfolgte bereits seit der Mitte der zwanziger Jahre als Reaktion auf die Exposition internationale des arts décoratifs in Paris von 1925 eine Strategie, die der Philosophie Dessauers entsprach. Die Vorbereitung einer großen, für 1932 in Köln geplanten – wegen der Wirtschaftskrise nicht realisierten – deutschen Kunstgewerbeausstellung mit dem visionären Titel „Die Neue Zeit“ setzte eben auf diese „Durchgeistigung“ der Technik als dem entscheidenden Kulturparadigma der Gegenwart.22 Für Ernst Jäckh, den Ausstellungskommissar, bildeten die perfekte Beherrschung der Technik und ihre ästhetische Sublimierung die entscheidenden Qualitäten Deutschlands und begründeten insofern dessen Vorrangstellung in Fragen der ästhetischen Kultur der Gegenwart.23 Für den bestens vernetzten Jäckh beinhaltete das auch politische Dimensionen, die den Werkbund zur kulturellen Leitinstanz innerhalb der Weimarer Demokratie bzw. Europas machen sollten.

[17] Bereits 1926 war zudem eine etwas esoterische Schrift des Malers Ernst Kropp in der Buchreihe des Werkbundes erschienen, in der der Autor eine von der modernen Technik abgeleitete Schönheit pries.24 In einer Verbindung von Bestandteilen einer idealistischen Ästhetik mit Erkenntnissen aus biologischen Evolutionsprozessen sowie mit Wilhelm Worringers Entgegensetzung naturalistischer und abstrakter Ästhetik zielt Kropp auf die Transzendierung rein zweckhafter Technik zu einer „starren“, weil gesetzmäßig glatten industriellen Form, welche die frühere „körperlich elastische Form“ als Instrument der Lebensbewältigung überwinde. Die Maschine sei leistungsfähiger und fortschrittlicher als der biologische Körper. Diese zeitgemäße Form zu schaffen, sei eine spezifische Eignung der Deutschen, die somit zu Vorreitern einer internationalen, von der Technik durchdrungenen Ästhetik bestimmt seien. Jäckhs Programmschrift beruft sich explizit und ausführlich auf eben die beiden Bücher von Kropp und Dessauer, da diese nachdrücklich die moderne Technik zum Ausgangspunkt der ästhetischen Erneuerung machten.25

[18] Mies van der Rohe war intensiv in diese Debatten eingebunden, nicht nur als zweiter Vorsitzender des Werkbundes, sondern auch als Mitglied der Planungskommission der Ausstellung „Die Neue Zeit“. Aus diesen Gründen lesen sich Miesʼ zeitgleiche theoretische Entwürfe, insbesondere der erwähnte Vortrag „Voraussetzungen baukünstlerischen Schaffens“, wie eine Paraphrase auf Dessauer und besonders auf Kropp. Vor allem wenn Mies den historistischen Rückbezug auf die Vergangenheit angesichts einer chaotischen Gegenwart als Symptom der Verunsicherung konstatiert und davon die allgegenwärtige Technik als Spezifikum der Gegenwart absetzt, welche in Bezug auf die „Bewußtseinssteigerung“ oder die „Lebensfülle“ in einer Architektur als „räumlichem Vollzug geistiger Entscheidungen“ zu transzendieren sei, so entspricht dies – über die bereits festgestellten Bezugnahmen auf Guardini und andere kulturkritische Autoren hinaus – den offiziösen Positionen des Werkbundes. Anders als bislang dargestellt, handelt es sich bei der um 1926/27 zu beobachtenden Wendung von Miesʼ Hauptinteresse „vom materialistisch-positivistischen Was zugunsten des idealistisch und ästhetisch geprägten Wie“26 nicht um das Ergebnis einer theoretischen Reflexion des Architekten, sondern muss vor dem Hintergrund einer massiven Technikskepsis und Neupositionierung des Werkbundes als durchaus interessengeleitet verstanden werden. Den Kulminationspunkt einer philosophisch untermauerten Begründung dieser Programmatik bildete dann die Werkbundversammlung 1929 in Breslau, auf der bezeichnenderweise Miesʼ Kronzeuge Dessauer als Hauptredner auftrat.27

[19] Im Zusammenhang der 1926 und 1927 erschienenen Bücher von Kropp, Guardini und Dessauer erhält auch die Weißenhofausstellung des Werkbundes einen neuen Akzent. Denn die Präsentation von Le Corbusiers Wohnmaschinen war nicht nur aus der Perspektive des irritierten und entsetzten Publikums, sondern auch der von Mies angeregten und energisch unterstützten neuen Politik des Werkbundes diskreditiert. Der Wortführer der französischen Moderne war in die Falle jener naiven Technikbegeisterung getreten, die der Gefahr der Entfremdung des Menschen nicht Rechnung trug, während Mies eine neue, Ordnung stiftende Vergeistigung der Technik proklamieren und im Fall des Barcelona-Pavillons gar als nationalen Beitrag realisieren konnte. Mit einer vergleichbaren Skepsis gegenüber der Technik präsentierten sich zu dieser Zeit jeweils unterschiedlich – wie eingangs gesehen – Poelzig, aber etwa auch Mendelsohn, Oud und andere.28

[20] Die politische Polarisierung der Architekturdebatte, innerhalb derer der Bezug auf die Technik eine entscheidende Rolle spielte, bestand weiter. Denn weder die seit 1927 unter der Ägide von Le Corbusier und Gropius tagenden, programmatisch technokratischen und das Bild der Internationalen Moderne lange prägenden Congrès internationaux d’architecture moderne noch die zunehmend nationalistischen und rassistischen und seit 1933 zur Staatsdoktrin erhobenen Positionen der ‚konservativen Moderne‘ folgten einer derartigen Strategie einer transzendierenden Versöhnung von Technik und Ordnung.

Epilog

[21] Das Paradigma der Großtechnik, verstanden als durchgreifende industrielle, soziale und ökonomische Rationalisierung, lässt sich auch als wesentliches Differenzierungsmerkmal der beiden Hauptprotagonisten der Weißenhofsiedlung, Mies und Le Corbusier nachvollziehen. Jener wird seine messerscharf präzise Ordnung und Veredelung des Technischen konsequent weiterverfolgen, nicht nur in der Villa Tugendhat in Brünn, sondern in sämtlichen unausgeführten Projekten der verbleibenden Zeit in Deutschland, verschiedenen Villen oder dem Entwurf für die Reichsbankerweiterung von 1933. Nach der Übersiedlung nach Chicago 1938 wird Mies diesen Weg – parallel etwa zu Eero Saarinen oder dem Büro SOM – fortsetzen und schließlich in ein Corporate Identity-Konzept für Wolkenkratzer, am besten zu ersehen im Seagram Building in New York City, transformieren.29 Bekanntlich kann ein zumeist auf eine wechselnde Mischnutzung angelegtes Hochhaus kaum ein Unternehmensbranding kommunizieren, sondern muss von sich aus ein eigenes Image und Prestige schaffen, die wiederum Teil der renditeorientierten Investitionsstrategie sind. Eine solche, dem konkret Funktionellen entzogene Universalität einer höchst anspruchsvollen Architektur galt für den Barcelona-Pavillon, sie gilt auch potenziert für das Seagram-Hochhaus, das zur Erbauungszeit 1958 in allen Medien als Inbegriff von Technikoptimismus, Innovation und ästhetischer Verfeinerung gefeiert wurde.30 Dies bezog sich nicht nur auf die neuartige Ausstattung (automatische Aufzüge, Klimaanlagen), sondern vor allem auf die streng regulierte, dabei überaus komplexe Grund- und Aufrissmodulierung des Gebäudes, die subtil auch in der Aussenhaut wirksam wird. Diese ist bekanntermaßen vollständig aus Bronze gefertigt beziehungsweise damit ummantelt. Zusammen mit der topasgrauen Tönung des Fensterglases entsteht hier der Charakter einer kostbaren, riesenhaften Metallskulptur, die sich Distanz einfordernd am Ende der vorgelagerten Plaza erhebt. Die Kunsthaftigkeit des technischen Werks ist zahlreichen Aspekten des Gebäudes und Momenten seiner Entstehungsgeschichte zu entnehmen, vom enthusiastischen Engagement der Förderin Phyllis Lambert über das wie eine Skulptur aufgesockelte Metallmodell bis zu den Diskussionen um die Patina der Bronzeverkleidung.31 Man mag das hier vermittelte Image von stimmiger Eleganz, würdevoller Langlebigkeit und überzeitlicher Schönheit als reines Branding ansehen. Jedenfalls schuf die Integration des Künstlerischen in eine dadurch transzendierte Technik, wie dies Mies seit den späten zwanziger Jahren als Ausweg aus der Krise des Technischen betrieb, nunmehr ein überindividuelles Ordnungssystem, eine – um Dessauer zu paraphrasieren – ‚Konkretisierung einer höheren Welt‘, in dem moderne Aristokraten Mondänität und Eleganz leben können. In diese sublim nobilitierte, gleichsam sakrale Sphäre sind auch Kunstwerke einzusetzen – in diesem Sinne entsprechen sich die Kolbe-Skulptur in Barcelona und die vielfache Integration von Kunstwerken in und vor dem Seagram-Gebäude. Sie kontrastieren aber bewusst mit der um sie geschaffenen technischen Ordnung, die nunmehr, im Seagram Building, nicht als programmatisches Manifest aufzufassen, sondern, nicht weiter hinterfragt, präsent ist.

[22] Ganz anders entwickelt sich Le Corbusier seit der Zeit um 1930. Zwar wird, insbesondere in der Publikation Précisions von 1929, in der die im selben Jahr in Argentinien gehaltenen Vorträge veröffentlicht sind, die „époque machiniste“ vielschichtig und in ihren negativen sozialen Auswirkungen analysiert.32 Doch ist Le Corbusier die Großtechnik banales Werkzeug in der Hand eines Architekten-Künstlers, der auf ihrer Grundlage ein vollendetes Kunstwerk zum Wohl des Menschen erstellt: Les techniques sont l’assiette même du lyrisme, heißt einer der in dem Buch abgedruckten Vorträge,33 und dies bedeutet vor allem, durch umfassende technisch-industrielle urbanistische Eingriffe physisches Wohlergehen (Freizeit, Sport) sicherzustellen. Le Corbusier aktiviert dabei eine Rolle des Architekten als Universalkünstler, die zahlreiche traditionelle Topoi bedient: Malen als inspirierte Kreation wird seit dieser Zeit zum essentiellen Lebensinhalt von ‚Corbu‘, und das sinnliche Erleben von Naturgegenständen führt zu organisch-plastischen Architekturen. Diese lassen sich ohne weiteres als monumentale Skulpturen verstehen – von den ondulierenden Pylonen des Pavillon Suisse in der Cité Universitaire in Paris (1931-1933) bis hin zur Kapelle von Ronchamp (1950-1955) –, mithin als je individuell ersonnene und somit nicht von den Bedingtheiten der Großtechnik infizierte plastische Werke.

[23] Auch zeigen viele Einzelprojekte Le Corbusiers seit circa 1929 kaum noch provokante Referenzen auf Ingenieursbauten; stattdessen operieren sie mit offensichtlich handwerklich bearbeiteten rohen und rauen Materialien, wie etwa in der Außenmauer des genannten Schweizer Pavillons oder den Wänden der Villa de Mandrot in Le Pradet von 1932 zu sehen, welche aus bruchrauen Steinen bestehen. Der Architekt als Universalkünstler kompensiert die negativen Auswirkungen des machinisme durch Werke, die suggerieren, sie seien als plastisch individuell gestaltete Gebilde different von kaltem technischen Kalkül. Man mag diese Neuorientierung von Le Corbusier etwas überspitzt als eine Reaktion auf die Krise der Technik und zugleich als ein Abrücken von Architekturauffassungen verstehen, die gleichzeitig, seit Ende der zwanziger Jahre, vom Deutschen Werkbund und von Mies verfolgt wurden. Dies würde sich mühelos in die omnipräsenten antagonistischen Klischees vom wohlorganisierten, kalkulierenden Deutschen vs. dem freiheitsliebenden, individualistischen Franzosen fügen. Gleich wie dem sei, zumindest sind hier Reaktionsmuster auf die Krise der Technik zu beobachten, die zugleich Teil einer Krise der modernen Architektur ist. Das Verdrängen oder Hintanstellen der Technik bei Poelzig oder Le Corbusier soll die Architektur als kompensatorische ‚Kunst‘ retten, die etwa im Rekurs auf den Modulor und ein vitales Pulsieren eine elementare Humanität suggeriert – wohingegen bei Mies Kunst und Technik ineinander aufgehen und sich zu einem Ambiente transformieren, das zeitlose und sublimierte Eleganz vermittelt, ohne sich dabei als eigengesetzliches Kunstwerk zu gerieren, das der alltäglichen Lebenswelt gegenübergestellt ist.

Gastherausgeber des Special Issues
Rudolf Fischer (Hg.), Mies und mehr … . Transferprozesse in Architektur und Wohnkultur der 1920er und 1930er Jahre, RIHA Journal 0184-0188.

Lizenz
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1 Hans Poelzig, „Der Architekt. Festvortrag auf dem 28. ord. Bundestag des BDA am 4. Juni 1931“, in: Die Baugilde 13 (1931), 925-937, wiederveröffentlicht in: Hans Poelzig, Gesammelte Schriften und Werke, hg. v. Julius Posener, Berlin 1970 (Schriftenreihe der Akademie der Künste, Bd. 6), 229-246.

2 Wolfgang Pehnt und Matthias Schirren (Hg.), Hans Poelzig. Architekt, Lehrer, Künstler, Ausst.kat., Stuttgart 2007, Nr. WV 145 u. 146.

3 Dietrich Neumann, „Der Barcelona-Pavillon“, in: Mythos Bauhaus, hg. v. Anja Baumhoff und Magdalena Droste, Berlin 2009, 226-243.

4 Zuletzt Ursel Berger und Thomas Pavel (Hg.), Barcelona-Pavillon. Mies van der Rohe & Kolbe, Architektur & Plastik, Berlin 2006.

5 Neumann, „Der Barcelona-Pavillon“.

6 Kenneth Frampton, „Ludwig Mies van der Rohe, Avantgarde und Kontinuität“, in: ders., Grundlagen der Architektur. Studien zur Kultur des Tektonischen, München und Stuttgart 1993, 175-227.

7 „Die Erdbebensicherungen beim Bau der Mitsui-Bank in Tokio“, in: Die Bautechnik. Fachschrift für das gesamte Bauingenieurswesen 5 (1927), 628-629.

8 Vgl. z. B. Werner Nosbisch, „Neuzeitliche Baustoffe und Bauweisen im Wohnungsbau“, in: Die Baugilde 11 (1929), 1289-1296.

9 Patente DE398054 (C) ― 1924-07-01 und DE448526 (C) ― 1927-07-28 ; Walter Birett, Die Praxis der Verchromung, Berlin 1935; Autor?, „Nichtrostender Stahl“, in: Die Baugilde 11 (1929), 1496-1497; eingehend zur Technik der Verchromung: Antje Wollmann und Christoph Krekel, „Die Herstellungs- und Materialgeschichte von Chromoberflächen – zum Forschungsbedarf aus konservatorischer Sicht“, in: Modern Wohnen: Möbeldesign und Wohnkultur der Moderne, hg. v. Rudolf Fischer und Wolf Tegethoff, Berlin 2016, 165-182.

10 Abbildungen z.B. in Wolf Tegethoff, Mies van der Rohe. Die Villen und Landhausprojekte, Essen 1981, Nr. 10.6. (MoMA 14.1); vgl. auch Dietrich Neumann, „Architektur der Reflexionen: zur kritischen Rezeption des Barcelona Pavillons“, in: Spiegel – Mies van der Rohe und die Geschichte von Glanz und Abglanz, hg. v. Wita Noack und Jan Maruhn, Berlin 2015, 97-117. Desley Luscombe, „Drawing the Barcelona Pavilion: Mies van der Rohe and the Implications of Perspectival Space”, in: The Journal of Architecture 21 (2016), Nr. 2, 210-243.

11 Daniela Hammer-Tugendhat und Wolf Tegethoff (Hg.), Ludwig Mies van der Rohe - das Haus Tugendhat, Wien u. New York 1998; zuletzt: Iveta Černá und Dagmar Černoušková (Hg.), Mies in Brno. The Tugendhat House, Brno 2013.

12 Fritz Neumeyer (Hg.), Mies van der Rohe – Das kunstlose Wort. Gedanken zur Baukunst, Berlin 1986, passim.

13 Ludwig Mies van der Rohe, „Die Voraussetzungen baukünstlerischen Schaffens“, in: Mies van der Rohe – Das kunstlose Wort. Gedanken zur Baukunst, hg. v. Fritz Neumeyer, Berlin 1986, 362-365.

14 Mies van der Rohe, „Die Voraussetzungen baukünstlerischen Schaffens“, 365.

15 Oswald Spengler, Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einer Philosophie des Lebens, München 1931; vgl. auch Christian Freigang, „Deutsche Technikdiskurse im Kontext von CIAM II“, in: Neues Wohnen 1929/2009. Frankfurt und der 2. Congrès international d’architecture moderne. Beiträge des internationalen Symposions Frankfurt am Main, 22.-24. Oktober 2009, hg. v. Helen Barr, Berlin 2011, 89-98.

16 Romano Guardini, Die Technik und der Mensch. Briefe vom Comer See, Mainz 1981 (urspr.: Briefe vom Comer See, Mainz 1927).

17 Guardini, Die Technik und der Mensch. Briefe vom Comer See, 82.

18 Paul Tillich, „Logos und Mythos der Technik“, in: ders., Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur, Stuttgart 1967 (= Gesammelte Werke, Bd. 9), 297-306 (zuerst in: Logos 16 [1927], 356-365); ders.: „Die technische Stadt als Symbol“, in: ders., Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur, Stuttgart 1967 (= Gesammelte Werke, Bd. 9), 307-311 (zuerst in: Dresdener Neueste Nachrichten, Nr. 115, 1928).

19 Friedrich Dessauer, Philosophie der Technik. Das Problem der Realisierung, Bonn 1927.

20 Dessauer, Philosophie der Technik, 24.

21 Dessauer, Philosophie der Technik, 142-143.

22 Annemarie Jaeggi: „‘Die Neue Zeit’, Köln 1932 – Weltgestaltung in einem von Technik und Industrie geprägten Zeitalter“, in: 100 Jahre Deutscher Werkbund 1907/2007, hg. v. Winfried Nerdinger, Ausst.kat., München 2007, 150-154.

23 Ernst Jäckh, „Neudeutsche Ausstellungspolitik“, in: Neudeutsche Ausstellungspolitik, Berlin 1928 (= Veröffentlichungen des Deutschen Ausstellungs- und Messe-Amtes, Heft 4), 48-77.

24 Ernst Kropp, Wandlungen der Form im XX. Jahrhundert. Dem Deutschen Werkbund gewidmet von Ernst Kropp, Berlin 1926 (= Bücher der Form, Bd. 5).

25 Jäckh, „Neudeutsche Ausstellungspolitik“, 69-74.

26 Neumeyer (Hg.), Mies van der Rohe – Das kunstlose Wort, 196 und passim.

27 Friedrich Dessauer, „Technik – Kultur – Kunst“, in: Die Form 4 (1929), Heft 18, 479-486.

28 Amédée Ozenfant, „[Einleitung]“, in: Erich Mendelsohn, Neues Haus, Neue Welt, Berlin 1932, o. P.

29 Phyllis Lambert, Building Seagram, New Haven und London 2013; Benjamin Flowers, Skyscraper. The Politics and Power of Building New York City in the Twentieth Century, Philadelphia 2009; Phyllis Lambert (Hg.), Mies in America, Ausst.kat., Montréal und New York 2001, 391-406.

30 Flowers, Skyscraper, 97-144.

31 Lambert, Building Seagram, passim, v.a. 65-66.

32 Le Corbusier, Précisions sur un état présent de l’architecture et de l’urbanisme, Paris 1929, passim.

33 Le Corbusier, Précisions, 37-40; (sinngemäße Übersetzung: Die Techniken sind die eigentliche Grundlage des Lyrischen).