RIHA Journal 0150-0176:
Special Issue „War Graves/Die Bauaufgabe
Soldatenfriedhof, 1914-1989“ | 27 June 2017
Geleitwort
Über 70 Millionen Kriegstote haben der Erste und der Zweite Weltkrieg gefordert. Eine schier unvorstellbare Zahl, die den einzelnen Menschen, sein individuelles Schicksal nicht erkennbar macht. Je größer der zeitliche Abstand, je weniger Zeitzeugen uns berichten können, desto drängender wird die Frage, wie wir die Erinnerung an die Schrecken des 20. Jahrhunderts wach halten können. An welchen Orten sind die Folgen von Krieg und Gewaltherrschaft dokumentiert? Wie können wir diese Erfahrungen den nachwachsenden Generationen in angemessener Weise vermitteln?
Im nächsten Jahr, 2018, jährt sich das Ende des Ersten Weltkrieges zum 100. Male. Im Versailler Vertrag wurde das dauerhafte Ruherecht der Kriegstoten vereinbart. Seitdem pflegen international die Nationen ihre Kriegsgräberstätten in den ehemals verfeindeten Ländern.
Diese Friedhöfe sind wichtige und authentische Geschichtsorte, an denen individuelle Schicksale unmittelbar und namentlich erfahrbar werden. Doch den nachwachsenden Generationen fällt es immer schwerer, dies wahrzunehmen. So gilt es heute zunehmend, diese Orte durch politisch-historische Dokumentationen und Informationen zu erschließen.
Die Frage nach der Gestaltung der Kriegsgräberstätten gewinnt daher zunehmend an Bedeutung. Oftmals liegen hier nicht nur Soldaten, sondern sehr verschiedene Gruppen, viele Zivilisten, aber zum Beispiel auch Opfer der Wehrmachtsjustiz, deren Zahl nicht gering ist, wie ein Beitrag in diesem Special Issue zeigt. Darüber wissen wir heute noch viel zu wenig.
Die Untersuchung dieser Gemengelage gehört zu den Arbeitsfeldern der Forschenden, die der vorliegende Tagungsband vereint. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Arbeit des Volksbundes, indem sie unterschiedliche Forschungsperspektiven auf seine verschiedenen Arbeitsfelder sowie auf den Verein selbst einnehmen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Provenienz legen mit dieser Publikation eine kritische Betrachtung des Wissens- und Forschungsstandes zum Thema vor; sie diskutieren methodische Zugänge und liefern interdisziplinäre Anknüpfungspunkte. Ich freue mich über diese Arbeitsergebnisse und hoffe sehr, dass sie bei allen breit wahrgenommen werden, die sich mit Kriegsgräbern beschäftigen – und dazu beitragen, dass diese Fragen in unserer Gesellschaft stärker wahrgenommen werden.
Um solches Wissen weiterzugeben, macht der Volksbund seit über 60 Jahren Kriegsgräber- und Gedenkstätten zum Ausgangspunkt und Ziel internationaler Jugendbegegnungen. Hier geht es um Friedensbildung und um die Ausprägung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins mit europäischem, interkulturellem und zunehmend auch globalem Horizont. Durch Begegnungen mit den Menschen des Gastlandes wird erfahrbar, welches Schicksal deren Angehörige in der Vergangenheit erleiden mussten und zugleich ein Aktualitäts- und Gegenwartsbezug hergestellt. Es entstehen Räume zur Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und der des Partnerlandes. Die Arbeit an konkreten Einzelbiographien bricht die Anonymität abstrakter Zahlen auf: Sie besser zu verstehen, eröffnet eigene Möglichkeiten in der Gestaltung unserer Gegenwart und Zukunft, kann Orientierung geben und zum Engagement ermutigen.
Doch so wertvoll diese Vermittlungsarbeit mit jungen Menschen ist, so sehr fordern diese Gräber uns als Gesellschaft insgesamt heraus. Die Frage ist, wie künftig die Sorge um die Kriegsgräberstätten gestaltet werden soll. Bis heute hat die Erlebnisgeneration in ganz erheblichem Maße die Sorge um die deutschen Kriegsgräber getragen, inhaltlich wie finanziell. Doch geht diese Generation von uns. Wie können die nächsten Generationen davon überzeugt werden, dass dies auch in Zukunft noch eine wesentliche gesellschaftliche Aufgabe ist?
In der Vergangenheit hat der Volksbund neben Bau und Pflege dieser Friedhöfe im Ausland einen öffentlichen Raum für die individuelle Trauer der Angehörigen geschaffen. Dabei hat er sich weitgehend jeglicher Bewertung des Zweiten Weltkrieges als eines nationalsozialistischen Angriffs- und Vernichtungskrieges enthalten und an den oft heftigen Debatten der gesellschaftlichen Aufarbeitung in den Jahrzehnten nach 1945 nicht teilgenommen.
Doch heute sind Kriegsgräberstätten immer seltener Orte individueller Trauer. Wir stehen heute als Gesellschaft vor der Herausforderung, sie zum Ausgangspunkt öffentlichen Gedenkens und der Bildung zu gestalten. Dahinter steht die Überzeugung, dass das Gedenken an Krieg und Gewaltherrschaft eine gesellschaftliche und politische Aufgabe ist, die der öffentlichen Aufmerksamkeit und Diskussion bedarf. Jeder ist aufgerufen, sich daran zu beteiligen. Für diese Aufgabe gibt es kein Monopol eines Vereins. Eine neue Homepage bietet sich hierfür als Forum an: www.zukunft-der-kriegsgräberfürsorge.de
Unser Anliegen muss es sein, das Gedenken auf Kriegsgräberstätten und damit die Aufarbeitung von Krieg und Gewaltherrschaft in eine künftige nationale Erinnerungskultur zu integrieren. Doch ist auch der nationale Rahmen zu eng. Zunehmend blicken wir heute in Europa gemeinsam zurück auf die Schrecken des 20. Jahrhunderts. Deshalb gilt es, auch die eigene Kultur des Gedenkens in den Dialog mit den Nachbarn zu bringen – wir brauchen zunehmend eine dialogische Erinnerungskultur, die auch die Erfahrungen der ehemaligen Opfer und Kriegsgegner einbezieht.
In einer Zeit, in der wir heute neu mit Krieg und Gewaltherrschaft in unserer Nachbarschaft konfrontiert sind, wird die Aktualität dieser Fragen besonders deutlich.
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