RIHA Journal 0155 | 27 June 2017

Russlands Arlington? Der Föderale Militärische Gedenkfriedhof bei Moskau

Mischa Gabowitsch

Abstract
Opened in 2013, the Federal Military Memorial Cemetery near Moscow is Russia’s new national cemetery. Providing for the interment of political as well as military leaders, it is to supplant the Kremlin Wall as the country’s prime burial site. Initially modeled after the Arlington National Cemetery and designed as a landscaped park, the site was eventually built as a monumental complex dominated by bronze statues. Plans to let common soldiers be buried here next to decorated heroes were abandoned. This article analyzes the rival designs and the conflict surrounding the site’s construction. It also proposes a typology of national cemeteries. More than Arlington, the Federal Military Memorial Cemetery resembles heroes‘ cemeteries in countries influenced by the ideas of revolutionary liberation struggles and socialist realism.

Einleitung

[1] Am 22. Juni 2013 wurde in der Nähe von Moskau feierlich der Föderale Militärische Gedenkfriedhof (FMGF) eröffnet. Damit besitzt Russland zum ersten Mal in seiner Geschichte einen offiziellen Nationalfriedhof. Schon im Planungsstadium wurde die Anlage, die an das Dorf Sgonniki im Bezirk Mytišči ca. acht Kilometer nördlich des Moskauer Autobahnrings grenzt, immer wieder als "russisches Arlington" bezeichnet. Insbesondere war im Diskussions- und Planungsstadium davon die Rede, dass, wie auf US-Nationalfriedhöfen, nicht nur staatliche und militärische Würdenträger, sondern auch einfache Soldaten hier ihre letzte Ruhe finden sollten. Im Verlauf des konfliktreichen Planungs- und Bauprozesses änderten sich jedoch der Status und das Aussehen des Friedhofs. Letztendlich geriet er zu einem Begräbnisort für Auserwählte. Aus einem von Architekten mit landschaftsplanerischen Mitteln gestalteten, dem amerikanischen Vorbild nachempfundenen Konzept wurde ein Monumentalpark in triumphaler Ästhetik. Das Verteidigungsministerium spielte durchweg die entscheidende Rolle, bis hin zur Erklärung des Friedhofs zum militärischen Sperrgebiet mit Zugangsbeschränkung.

[2] Aufgrund der guten Quellenlage eignet sich der FMGF hervorragend als Fallstudie, die Licht auf die Logik der Funerärarchitektur und des staatlichen Gedenkens in der sowjetischen und postsowjetischen Tradition wirft. Die existierende Forschungsliteratur zu diesen Themen geht zumeist rein phänomenologisch vor und postuliert einen monolithischen Staat, der aus politischem Kalkül Kriegerdenkmäler und -friedhöfe in Auftrag gibt und deren Aussehen bestimmt. Erst in den letzten Jahren hat eine Reihe von Historikerinnen und Historikern anhand von Archivquellen die Baugeschichte einiger Denkmals- und Friedhofsanlagen nachgezeichnet1 (aufgrund der systematischen Umbettungspraxis ist die Unterscheidung im sowjetischen Fall sehr oft nicht eindeutig) und zumindest fragmentarisch einige der Aushandlungsprozesse beschrieben, die sich hinter den Kulissen zwischen staatlichen Entscheidungsträgern, Architekten und Bildhauern, Stadtplanern und Armeeangehörigen abgespielt haben, von ideologischem Druck über Finanzierungsprobleme und die Bedeutung konkreter Seilschaften bis hin zu ästhetischen Konflikten. Am Beispiel des FMGF lässt sich die Komplexität dieser Verhältnisse besonders gut veranschaulichen. Der neue Friedhof verdeutlicht die traditionelle Spannung zwischen Architekten und Bildhauern ebenso wie die zumeist unterschätzte Rolle des Militärapparats für die Ausgestaltung der Gedenkkultur und -architektur.

[3] Eine detaillierte Darstellung der Planungs- und Baugeschichte des Föderalen Militärischen Gedenkfriedhofs sowie eine historische Einordnung nehme ich anderswo vor.2 In der folgenden Analyse geht es mir vor allem um die unterschiedlichen Entwürfe für den neuen Nationalfriedhof. Im Anschluss komme ich noch einmal auf die Parallelen zu Arlington und anderen Nationalfriedhöfen zurück und stelle eine historische Typologie auf, die die verschiedenen Traditionen der Verbindung zwischen Militär- und Nationalfriedhöfen in einem globalen Kontext miteinander vergleicht. Zum Abschluss gehe ich kurz auf den Krieg in der Ukraine ein, der den gerade eröffneten Friedhof in einen neuen Kontext rückt und der Frage des Gefallenengedenkens auch für Russland wieder größere Aktualität verleiht, als sie für die meisten anderen europäischen Länder besitzt.3

Vorgeschichte und Ortssuche

[4] Der nach Jahrzehnten der Diskussion und Planung endlich fertiggestellte Moskauer Siegespark wurde 1995 zum 50. Jahrestag des Kriegsendes eröffnet. Zwischenzeitlich war unter anderem eine Verbindung zwischen Park und Umbettungs-/Gedenkfriedhof im Gespräch gewesen, wie sie etwa im Treptower Park oder auf dem Mamaev-Hügel in Volgograd realisiert worden war. Letztendlich entstand die 135 Hektar große Anlage auf dem Verneigungshügel westlich des Stadtzentrums jedoch als Gedenk- und Volkspark ohne Grabstätten.4

[5] Der Abschluss des Großprojekts ließ also die Frage nach einem militärischen Nationalfriedhof offen, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des ersten Tschetschenienkriegs. Auch das Finanzielle spielte eine Rolle: Unter den neuen marktwirtschaftlichen Bedingungen wurden Bestattungen zu einem kostspieligen Unterfangen. Die Befürworter eines Nationalfriedhofs für verdienstvolle Militärangehörige wiesen immer wieder darauf hin, dass ein Begräbnis auf einem der prestigeträchtigeren Moskauer Friedhöfe selbst für Angehörige von Marschällen a. D. unerschwinglich geworden war.5

[6] Den Stein ins Rollen brachte eine personelle Neubesetzung. Im November 1998 wurde der 45-jährige General Aleksandr Kirilin, ein Karriereoffizier und promovierter Militärhistoriker, zum Leiter der zentralen Gedenkstelle beim Verteidigungsministerium berufen. Kirilin entfaltete eine rege Aktivität und wurde unter anderem auch zum Spiritus Rector des geplanten Friedhofs, der entscheidend zur Überwindung administrativer, finanzieller und technischer Schwierigkeiten beitrug und letztendlich den entscheidenden Einfluss auf das Aussehen des Friedhofs ausüben sollte.

[7] Auf Kirilins Betreiben gab der neue Präsident Putin grünes Licht für die Anlage. Schwierig gestaltete sich zunächst vor allem die Suche nach geeignetem Bauland in und um Moskau. Mit dem Wegfall von Zuzugs- und Baubeschränkungen, der Einführung marktwirtschaftlicher Mechanismen und der zunehmenden Konzentration finanzieller Ressourcen in der Hauptstadt wuchs Moskau stetig, und freie Flächen wurden in erster Linie für den lukrativen Neubau von Wohntürmen genutzt. Im Umland entstanden ebenso rasant großflächige umzäunte Villenviertel und Kottedž-Siedlungen, nachdem auch hier im Jahr 1990 die strengen Baubeschränkungen weggefallen waren, die früher für Datschen gegolten hatten.6

[8] Schließlich brachte Kirilin das Verteidigungsministerium dazu, selbst Land zur Verfügung zu stellen: Um Platz für den Friedhof zu schaffen, wurde ein stillgelegtes militärisches Testgelände beim Dorf Sgonniki nahe der Moskauer Trabantenstadt Mytišči geräumt, das um zwei angrenzende Grundstücke erweitert wurde. Im Jahr 2000 wurde hier ein symbolischer Grundstein gelegt. Im Juli 2001 konnte Putin per Erlass den offiziellen Auftrag zum Bau eines Föderalen Militärischen Gedenkfriedhofs geben.7

[9] Bereits die Vorgeschichte des Friedhofsbaus straft also die Vorstellung Lügen, wonach "der Kreml" stets die treibende Kraft hinter der Errichtung monumentaler Gedenkanlagen ist – ein Klischee, das auch die wenigen westlichen Presseberichte zum Bau bedienten. Noch vor dem Baubeschluss und der Ausschreibung mussten sich nicht weniger als 18 unterschiedliche Behörden abstimmen, um den Grunderwerb zu sichern. Ähnlich kompliziert sollte sich später die Diskussion um Auswahlkriterien für eine Bestattung auf dem Nationalfriedhof gestalten.8 Der Unterschied zu ähnlichen Projekten in anderen europäischen Ländern bestand allerdings darin, dass diese Aushandlungsprozesse zum allergrößten Teil hinter verschlossenen Türen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden und formal ein Präsidialerlass nötig war, um die Arbeit in Gang zu bringen. Einfache Veteranen waren nicht beteiligt; auch deshalb wurde die Hoffnung auf einen Nationalfriedhof à la Arlington mit Ruherecht für alle Teilnehmer an Kampfhandlungen zunichte gemacht. Der Regierungsbeschluss vom Februar 2004, der die Bestattungskriterien festlegte, sah nur für besonders dekorierte Veteranen ein Recht auf Bestattung auf dem FMGF vor, außerdem für Soldaten, Polizisten, Feuerwehrleute und andere, die mit besonderer "Tapferkeit" ihr Leben für staatliche Interessen gelassen hätten. Darüber hinaus wurden auch staatliche Würden- und Ordensträger bis hin zum Präsidenten sowie jegliche weitere vom Präsidenten designierte Personen eingeschlossen, zudem jeweils die Ehegatten, nicht aber die Kinder.9 Damit versäumte es die Regierung, mit der hierarchischen Tradition zu brechen, die etwa die sowjetische Armee am Ende des Zweiten Weltkriegs oftmals separate Friedhöfe für Offiziere und einfache Soldaten anlegen ließ.

[10] Was hingegen die Wahl des Ortes angeht, bricht der FMGF ungewollt, aber durchaus radikal sowohl mit der sowjetischen als auch mit der postsowjetischen Tradition, in der die Sichtbarkeit, Ortsspezifik und landschaftliche Dominanz repräsentativer Grabstätten von Soldaten und staatlichen Würdenträgern sonst große Bedeutung besitzen. Im Ergebnis leitete sich die Lage in erster Linie aus wirtschaftlichen und administrativen Überlegungen ab.

Ausschreibung und erster Entwurf

[11] Auch nach dem Präsidialerlass lag die Planung für den FMGF weiterhin beim Verteidigungsministerium, obwohl feststand, dass auf dem Nationalfriedhof auch zivile Würdenträger ihre letzte Ruhe finden sollten. Präsident und Regierung schrieben damit eine Tradition fort, die der Armee gewissermaßen als Entschädigung für ihren mangelnden politischen Einfluss ein Mitspracherecht beim öffentlichen Gedenken einräumte.

[12] Im Dezember 2001 schrieb das Verteidigungsministerium schließlich einen offiziellen Wettbewerb für den Gedenkfriedhof aus.10 Den Zuschlag bekam das Moskauer Architekturbüro Mosproekt-4. Das 1968 gegründete Institut war unter anderem bei den Bauten für die Olympischen Spiele in Moskau 1980 federführend gewesen. Seine Leitung hatte 1998 der prominente Architekt Andrej Bokov (geb. 1943) übernommen, der 2008 zum Präsidenten des Russländischen Architektenverbandes gewählt werden sollte.

[13] Das von Bokov und seinen Mitarbeitern vorgelegte Planungskonzept sah eine Kombination aus strengen geometrischen Formen in Verbindung mit dichter Baumbepflanzung und einem parkähnlichen, dörflichen Waldfriedhöfen nachempfundenen Gräberfeld vor. Bis die eigentliche Entwurfsplanung abgeschlossen war, sollten jedoch noch drei weitere Jahre vergehen.

[14] Unter anderem lag dies daran, dass die Finanzierung für den Bau endlich gesichert war: Erst im Februar 2004 verabschiedete die Regierung in Erfüllung des Präsidialerlasses endlich einen Beschluss, der nicht nur die Bestattungskriterien festlegte, sondern auch die Kosten für den Bau im Staatsbudget verankerte und eine juristische Person schuf, die als Bauherr und später als Verwaltung des Friedhofs fungieren konnte. Diese wurde dem Verteidigungsministerium unterstellt. Letzteres wiederum designierte das ministeriumseigene Projektbüro 20-Zagrantechstrojproekt, dessen Leiter Viktor Čudnovcev sich ebenfalls am ursprünglichen Wettbewerb beteiligt hatte, als Generalunternehmer.

[15] Nun konnte sich Mosproekt-4 an die Detail-Ausarbeitung des Projekts machen. Dafür engagierte das Büro mehrere externe Mitarbeiter. Unter anderem wurde – um auch Künstler beschäftigen und bezahlen zu dürfen – eine Kooperation mit dem Kombinat für monumental-dekorative Kunst unter Leitung der Kunsthistorikerin Natal’ja Anikina (geb. 1947) vereinbart, das sich zu sowjetischen Zeiten vor allem mit der Serienproduktion figürlicher Denkmalskunst einen Namen gemacht hatte. Anikina wiederum holte den künstlerischen Direktor des Kombinats, den Glasmaler Sergej Gorjaev (geb. 1958), mit an Bord.11

[16] Im Mai 2005, zum ursprünglich als Eröffnungstermin genannten Datum, legten Bokov und sein erweitertes Team ihren Entwurf vor.12 Das längliche, aber unregelmäßig geformte Friedhofsgelände sollte horizontal von einer durchgehenden, über zwei Kilometer langen Zentralachse durchschnitten werden, die zu gleichen Teilen durch das Reich der Lebenden und das der Toten führt (Abb. 1).

1 Ursprünglicher Entwurf des Föderalen Militärischen Gedenkfriedhofs (FMGF) bei Moskau, 2005 (© Mosproekt-4)

[17] Der Haupteingang befindet sich unweit der am Friedhof vorbeiführenden Schnellstraße. Nach dem Eintritt durch ein breites, jedoch niedriges Tor aus poliertem grauem Granit oder Sandsteinblöcken betritt der Besucher die Mittelachse aus Katzenkopf- oder Großsteinpflaster und wird zunächst zwischen vier Paaren von Mauern aus rotem Granit durchgeführt, auf denen in großen Buchstaben geflügelte Worte aus Literatur und Populärkultur zum Großen Vaterländischen Krieg eingemeißelt sind. Die abfallenden Rückseiten der Mauern sind mit Gras bewachsen, das in baumbepflanzte Rasenflächen übergeht. Links und rechts thronen bronzene Doppeladler, die den russländischen Staat bzw. das Verteidigungsministerium symbolisieren – auf der Ebenbürtigkeit der beiden hatte Kirilin bestanden.13 Linkerhand befindet sich – neben einem ersten Besucherparkplatz und einem Seitenweg, der zum Betriebsbereich führt – ein "Gedenkpark" mit verschlungenen Pfaden ohne Grabstätten.

[18] Danach wird der Weg zur Allee. Diese führt zu einer Kreuzung, an deren Ecken vier schwarze Quader die Teilstreitkräfte zu Luft, zu Lande, zu Wasser und im Hinterland versinnbildlichen. Die Allee zieht sich weiter, flankiert von weiteren Besucherparkplätzen für PKWs und Busse, bis schließlich ein zweiter Eingangsbereich erreicht wird. Hier findet sich – neben einer Cafeteria, einem Blumenladen und Toiletten – als Vestibül und Seiteneingang für Besuchergruppen eine mit Wandmalerei zu militärischen Themen ausgeschmückte Gedenkhalle.

[19] Weiter führt der Weg als "Heldenbrücke", die an einer natürlichen Schlucht vorbei die Welt der Lebenden mit dem Totenreich verbindet. An den massiven Stützpfeilern der Brücke sind Bronzereliefs befestigt, die verschiedene militärische Epochen symbolisieren – von der Schlacht auf dem Eise anno 1242 bis hin zu den "Lokalkriegen" der letzten Jahre. Auf den Pfeilern ruhen große Trauerschalen, die zwar keine Ewige Flamme enthalten, aber in der Dunkelheit mit weit ausstrahlenden Projektoren den Weg beleuchten (Abb. 2).

2 Ursprünglicher Entwurf der "Heldenbrücke" und des Leichenhauses, Föderaler Militärischer Gedenkfriedhof (FMGF) bei Moskau, 2005 (© Mosproekt-4)

[20] Das Reich der Toten beginnt mit einem verglasten und in dunklen Tönen gehaltenen Leichenhaus: Die Zentralachse führt die Besucher mitten durch dieses hindurch, an dem in dessen Mitte gelegenen, nach oben offenen "Ritualplatz" mit einer Ewigen Flamme und fackelförmigen Leuchtkörpern vorbei. Flankiert wird dieser Platz von zwei Trauerhallen, dekoriert mit Militärflaggen verschiedener Epochen. Nordwestlich und südöstlich des Gebäudes sind Skulpturengruppen zu den Themen "Trauer" bzw. "Ruhm" aufgestellt. Weiter führt der Weg durch die "reguläre Bestattungszone", bestehend aus je acht quadratischen Gräberfeldern auf jeder Seite. Durch strenge Baumreihen und Hecken in "Viertel" nach Truppengattungen (etwa "U-Boot-Matrosen") gegliedert, werden diese von "Heldenalleen" durchschnitten. Schließlich mündet die Zentralachse in ein Kolumbarium, das in Form eines halbrunden Amphitheaters angelegt ist. Letzteres ist eine Anleihe aus Arlington; während das dortige Amphitheater jedoch den Hinterbliebenen Sitzgelegenheiten bei Trauerzeremonien bietet, sollte die Perspektive hier umgekehrt werden: Die zum Abschied erschienenen Lebenden, symbolisiert durch die Statue eines jungen Soldaten mit entblößtem und gesenktem Haupt, stehen gewissermaßen vor dem Gericht der Toten.14 Hinter dem Halbrund führt die Fortsetzung der Zentralachse weiter zum hinteren Friedhofseingang. Das restliche Gelände um die reguläre Bestattungszone und das Kolumbarium herum füllt ein parkähnlich angelegter Landschaftsfriedhof, der neben verstreuten Bäumen auch einzelne Akzente wie Findlinge oder Grabhügel enthält.

[21] Für Russland war der Entwurf ausgesprochen innovativ. Dass eine Kriegsgräberstätte hauptsächlich mit landschaftsarchitektonischen statt bildhauerischen Mitteln gestaltet werden sollte, war an sich ein Novum. Bei den sowjetischen Großbauten von den ersten, 1945 errichteten Komplexen etwa in Königsberg, Berlin und Wien bis hin zum Mamaev-Hügel in Volgograd waren die Denkmale jeweils so dominant, dass sich ihr Charakter als Bestattungsort vielen Betrachtern gar nicht erschloss: Der Unterschied zwischen diesen Gedenkkomplexen und solchen wie dem Museum des Großen Vaterländischen Krieges in Kiew, die keine Kriegsgräber enthielten, verwischte sich. Auch sonst wirkte der Entwurf – vor allem dank der niedrigen Bauten, der verhältnismäßig dezenten Farben und der Verbindung zwischen strengen geometrischen Formen und bukolischem, vor Grün strotzendem Landschaftspark – auf viele Beobachter ungewöhnlich "minimalistisch"15, "lakonisch"16, gar "asketisch"17 oder "modernistisch"18. Gleichzeitig griff dieser Entwurf aber auch die traditionelle Kultur des Kriegsgedenkens auf, wie sie sich seit dem Zweiten Weltkrieg – in Anlehnung an frühere europäische Vorbilder – im sowjetischen und postsowjetischen Russland entwickelt hat. Dazu gehörten die zentrale Stellung des Großen Vaterländischen Kriegs und die Symbolik von Heldentum und militärischem Ruhm, aber auch einzelne Elemente wie die Ewige Flamme.

Konflikte um das Aussehen des Friedhofs

[22] Auch nach Vorlage des Planungsentwurfs zog sich das Vorhaben jedoch weiter in die Länge. Es sollte bis zum 22. Juni 2013 dauern, bis Sergej Šojgu – der vierte Verteidigungsminister seit der Grundsteinlegung – den Föderalen Militärischen Gedenkfriedhof endlich feierlich einweihen konnte. Selbst dann brauchte es nach der ersten symbolischen Umbettung eines unbekannten Soldaten aus dem Gebiet Smolensk allerdings noch Monate, bis Ende Dezember mit der Beisetzung des Waffenkonstrukteurs Michail Kalašnikov die erste reguläre Bestattung stattfinden konnte.19 Ein Grund für die Verzögerungen war ein um Bokovs Entwurf entbrannter Konflikt, der zu langjährigen öffentlichen und juristischen Auseinandersetzungen zwischen den Beteiligten führte und das Aussehen des Friedhofs radikal veränderte (Abb.3).

3 Luftaufnahme des Föderalen Militärischen Gedenkfriedhofs (FMGF) bei Moskau, eingeweiht 2013 (Foto: Aleksej Semočkin, starbeak.livejournal.com)

[23] Der Glasmaler Sergej Gorjaev präsentierte sich seit 2006 als künstlerischer Leiter20 oder sogar Chefarchitekt21 und trat neben Kirilin und dem designierten Friedhofsdirektor, Generalmajor Vasilij Rudenko, gegenüber der Presse als Sprachrohr auf. Die Konzeption, die er dabei vorstellte (und bis 2010 immer wieder anpassen sollte), hatte sich merklich gewandelt. Roter und schwarzer Granit dominierten jetzt die Architektur – von den zwei neuen vertikalen Eingangsstelen, die mit florentinischem Mosaik zu den Themen "Trauer" und "Abschied" ausgeschmückt werden sollten,22 über das (nun mit einem Tor verschlossene) Eingangsgebäude und die Pavillons im Empfangsbereich bis hin zum Amphitheater des Kolumbariums. Bokovs luftiger und unaufdringlicher architektonischer Stil war – bis hin zur internen Ausgestaltung der Trauersäle – einem massiven Monumentalismus gewichen, bei dem malerische und bildhauerische Elemente den Ton angaben. Die (verbreiterte) Mittelachse führte nun ohne weiteren Blickfang direkt zur Kreuzung der Heeresgattungen. Eine der auffälligsten Änderungen betraf die inzwischen als "Brücke der Erinnerung" oder "Heldenallee" präsentierte Brücke: Deren Pfeiler schmückten nun überlebensgroße, auf Hochglanz polierte Bronzestatuen russischer Krieger aus verschiedenen Epochen, von mittelalterlichen Kriegern bis hin zu postsowjetischen Spezialeinsatztruppen (Abb. 4).

4 Die "Brücke der Erinnerung": endgültiges Aussehen, Föderaler Militärischer Gedenkfriedhof (FMGF) bei Moskau, 2013 (Foto: Mischa Gabowitsch)

Vor dem Kolumbarium erhob sich jetzt inmitten eines runden Reflexionsbeckens eine riesige bronzene Pietà, vor der aus dem Becken eine Ewige Flamme hervorloderte. Statt durch einen offenen Innenhof verbunden zu sein, waren die Bestattungssäle nun in zwei getrennten Gebäuden beiderseits der Mittelachse untergebracht, die anschließend unter einem Glockenbogen hindurch weiterging; dieser wiederum war von einer Kremlmauer in Miniatur flankiert, die als ein weiteres Kolumbarium fungieren sollte. Vor allem aber war die Idee eines Landschaftsfriedhofs verworfen worden. Die Quadrate der regulären Bestattungszone zogen sich nun nördlich wie südlich bis zum Rand des Friedhofsgeländes, und auch im Rest der Anlage dominierten strenge geometrische Formen. Die stark reduzierte Baumbepflanzung bestand zu großen Teilen aus Blautannen – je elf pro Quadrat.

[24] Was war passiert? Nach Darstellung Bokovs und seiner Mitarbeiter war Gorjaev zunächst nur als Autor von Glasmalereien ins Projekt aufgenommen worden. Anschließend habe er jedoch mit betrügerischen Mitteln die Projektleitung an sich gerissen, den Entwurf willkürlich verändert und ihn ohne Rücksprache mit den ursprünglichen Urhebern im Verteidigungsministerium bestätigen lassen. Alle ursprünglich an der Arbeit beteiligten Architekten, Bildhauer und Maler habe Gorjaev anschließend aus dem Projekt gedrängt.23 Seine Vormachtstellung habe Gorjaev der Unterstützung "einer Handvoll Generäle aus dem Hinterland" zu verdanken,24 die verhindert hätten, dass die ursprünglichen Pläne der Leitung des Ministeriums präsentiert werden könnten.25 Aus Bokovs Sicht würde Gorjaevs Version des FMGF "kein Friedhof werden, sondern ein Disneyland".26

[25] Gorjaev stritt nicht ab, dass er das Projekt auf Kirilins Drängen hin verändert hatte. Ohne Mosproekt-4 zu erwähnen, erzählte er einem Journalisten in der ersten Person Plural:

Ausgehend von unserer Analyse ausländischer Praxis, insbesondere des Arlington-Komplexes in Washington, wollten wir zunächst einen minimalistischen Weg beschreiten. Doch die Auftraggeber aus der Armeeverwaltung gaben uns die Aufgabe, dass die Gedenkstätte die Menschen schon beim ersten Blick auf die notwendige trauernd-feierliche Wellenlänge einstimmen sollte. Und wir haben das Projekt vollständig umgestaltet. Im Endeffekt haben wir einen für unser Land traditionelleren Stil gewählt – den der imperialen Architektur.27

Viele der neuen Elemente – vor allem der rote und schwarze Granit sowie die Blautannen – seien bewusste Anspielungen an die Kremlmauer und das Lenin-Mausoleum, die der neue Friedhof ja als nationales Pantheon ersetzen sollte.28

[26] Klar ist, dass es sich bei den Änderungen am ursprünglichen Entwurf nicht einfach um einen Alleingang Gorjaevs handelte, sondern ein Konflikt zwischen Kirilin – der Schlüsselfigur des gesamten Projekts – und Bokov zugrunde lag. Sicherlich hatte dieser Konflikt eine ästhetische Dimension. Hinzu kam allerdings auch eine Auseinandersetzung der zuständigen Generäle mit Bokovs Team zu technischen Aspekten wie der Befahrbarkeit für Schneeräummaschinen. Der Konflikt um den FMGF hatte jedoch auch breitere Bedeutung. In der Sowjetunion erlangten Architekten in der Auseinandersetzung um das Aussehen von Gedenkkomplexen bzw. Gräberstätten nur selten die Oberhand gegenüber Monumentalkünstlern. Obgleich Architekten wie Bildhauer zu sowjetischen Zeiten stets in großen Teams (zusammen-)arbeiteten, galten letztere ihren Rivalen als Inbegriff des einfallslosen Serienkünstlers, der die industrielle Produktion von Massenware beaufsichtigt und bestenfalls durch Größe zu trumpfen vermag. Auf dem FMGF hatten sich die "Monumentalisten" wieder einmal durchgesetzt (Abb. 5).

5 Glockenbogen und "Kremlmauer", dahinter die "Präsidentenallee" des Bestattungsbereichs sowie die Pietà mit Ewiger Flamme und Amphitheater, Föderaler Militärischer Gedenkfriedhof (FMGF) bei Moskau, 2013 (Foto: Mischa Gabowitsch)

[27] Welche Formensprache war aber für den Friedhof die angemessenere? Jay Winter hat in seiner vergleichenden Analyse des Gefallenengedenkens in Westeuropa nach dem Ersten Weltkrieg gezeigt, dass es weniger die innovativen Werke der Avantgarde als vielmehr der Rückgriff auf traditionelle Formen war, der Hinterbliebenen und Überlebenden die Sinnstiftung erleichterte.29 Ähnlich verteidigte Gorjaev kurz vor der Eröffnung die Ästhetik des Friedhofs:

Unsere Hartnäckigkeit hat obsiegt: Es ist uns gelungen, dem Verteidigungsministerium, dem Kulturministerium und einfach Menschen, denen die Stilistik des Ensembles nicht verständlich war, unsere architektonisch-künstlerische Vision klar zu machen. Zu beweisen, dass das kein supermodernes Ding sein soll. Und heute haben uns die Veteranen gedankt und gesagt, dass es genau so geworden ist, wie sie es wollten.30

[28] Der Verweis auf die Meinung ungenannter Veteranen (impliziert sind diejenigen des Großen Vaterländischen Kriegs) ist in Russland ein vielerprobtes und vielbelächeltes rhetorisches Mittel, mit dem jede Handlung rechtfertigt werden kann. Auch ist die Situation der wenigen verbliebenen Weltkriegsveteranen fast 70 Jahre nach Kriegsende kaum der Gram der Hinterbliebenen unmittelbar nach 1918 vergleichbar. Als Vergleichsfall können jedoch die Toten von Russlands jüngeren Kriegen etwa in Afghanistan oder Tschetschenien dienen. Im Gegensatz zu den inzwischen meist vom Staat bestellten Weltkriegsdenkmalen werden die Grab- und anderen Denkmäler für die Gefallenen dieser Kriege größtenteils von Hinterbliebenen und überlebenden Kameraden in Auftrag gegeben. Doch auch sie überschreiten nur selten die Grenzen der figürlich-monumentalen Tradition.31 Die Annahme ist also durchaus plausibel, dass die für den FMGF gewählte Stilistik den Geschmack nicht nur der im Verteidigungsministerium Verantwortlichen, sondern auch der potentiell unmittelbar Betroffenen trifft. Es stellt sich nur die Frage, ob diese Stilistik auch für einen Ort angemessen ist, der über das militärische Gedenken hinaus der zentrale Nationalfriedhof des Landes sein will. In Ermangelung einer öffentlichen Diskussion im Planungsstadium wurde diese Frage aber nie von breiteren gesellschaftlichen Kreisen erörtert.

Russlands Arlington?

[29] Von der ursprünglichen Idee bis zur Inbetriebnahme wurde der FMGF ständig mit anderen Friedhöfen verglichen. Immer wieder genannt wurden etwa die Kremlmauer und das Grab des Unbekannten Soldaten, aber auch andere bekannte Moskauer Friedhöfe. Doch der internationale Vergleich blieb stets dominant. Vor allem das Vorbild Arlington war omnipräsent. Der Bau des FMGF war somit "die Fortführung eines noch zu Zeiten der UdSSR begonnen Prozesses der Aneignung amerikanischer Symbole, die man in unserem Land irgendwann zu Symbolen einer Großmacht schlechthin erhob."32 Erst spät besannen sich die Verantwortlichen auch auf bekannte sowjetische Kriegsdenkmäler. Kurz vor Fertigstellung war die Kehrtwende perfekt, und aus dem Verteidigungsministerium war zu hören, "das neue Pantheon sei komplett nach russländischen Traditionen gestaltet […] und könne nicht als Imitation des Arlington-Friedhofs in den USA gelten".33

[30] Analogien statt inhaltliche Auseinandersetzung prägten somit die Diskussion über Gestaltung und Bestattungskriterien. In vielerlei Hinsicht unterscheidet sich der FMGF jedoch erheblich von allen genannten Vergleichsorten. Selbst in seiner Eigenschaft als militärischer Nationalfriedhof fällt er kaum in dieselbe Kategorie wie das Vorbild Arlington. Dieser ist in vielerlei Hinsicht typisch für westliche Soldatenfriedhöfe der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er wurde unmittelbar nach einem militärischen Konflikt (dem US-amerikanischen Bürgerkrieg) angelegt, um eine riesige Anzahl bereits gefallener Soldaten zu bestatten. Er war also eine Lösung für ein akutes logistisches wie ethisches Problem. Er wurde unweit von Schlachtorten geschaffen; bestattet wurden zum größten Teil gemeine Soldaten. Ähnliches gilt – bis auf die zeitliche Nähe – auch für Funeräranlagen, die erst Jahre oder Jahrzehnte nach Kriegshandlungen entstanden, von den norditalienischen Ossari bis hin zu den Soldatenfriedhöfen des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Osteuropa nach 1990. Auch Friedhöfe für repatriierte Überreste dienen – ob in den USA oder in Japan – der rangunabhängigen Bestattung gefallener Soldaten.

[31] Trotz gegensätzlicher Beteuerungen im Planungsstadium sieht die Realität auf dem FMGF bislang anders aus. Bis auf den unbekannten Soldaten aus dem Smolensker Gebiet sowie einen hochdekorierten Veteran des Großen Vaterländischen Kriegs waren alle bislang hier Beerdigten hohe Offiziere bzw. Waffenkonstrukteure, die in der Nachkriegszeit, im spät- oder postsowjetischen Russland, Karriere gemacht hatten. De facto handelt es sich beim FMGF also bislang um einen Amtsfriedhof für die Leitungsebene des Verteidigungsministeriums oder, zugespitzt gesagt, einen Friedhof der Generäle. Vom ursprünglich verkündeten Egalitarismus ist auch in der Gestaltung wenig übriggeblieben. Die Bestattungszonen sind, entsprechend dem Rang des Verstorbenen, in drei Kategorien unterteilt; für jede von ihnen sind Grabdenkmale eines bestimmten Typs vorgesehen.

[32] Auch der doppelte Status – einerseits Militärfriedhof, andererseits nationales Pantheon – ist bemerkenswert. Die Verbindung zwischen Soldaten und den obersten staatlichen Würdenträgern ist zwar keineswegs ein russisches Unikum, im europäischen Vergleich aber eher die Ausnahme. Während in Europa viele gewachsene Friedhöfe sowohl einzelne Abschnitte für Soldaten als auch Grabstätten bedeutender ziviler Persönlichkeiten enthalten, gibt es nur wenige Militärfriedhöfe, auf denen systematisch auch Staats- und Regierungsoberhäupter beigesetzt werden.

[33] Eine Verschmelzung der beiden Typen hat sich eher in Ländern etabliert, deren Staatsgründung mit einem militärischen Befreiungskampf in Verbindung gebracht wird, statt mit religiös legitimierten Herrschern assoziiert zu werden – also vor allem in ehemaligen Kolonien. Das Gefallenengedenken im Dienste der neuen Nationalstaatlichkeit, das sich in Westeuropa – als Demokratisierung des Todes34 oder Individualisierung der Erinnerung35 – im 19. und 20. Jahrhundert ausbreitete, ging hier kaum je so weit, auch die Staatsoberhäupter den Soldaten gleichzustellen: Diese wurden meist weiterhin in Kirchen, in Familiengrüften oder auf privaten Anwesen beigesetzt. Erst in Staaten, die sich aus Revolutionen oder Befreiungskämpfen legitimierten und deren Anführer sich als Männer aus dem Volk und einfache Revolutionäre oder Soldaten verehren ließen, wurde es möglich, Staatschefs gemeinsam mit einfachen Soldaten zu bestatten – wenn auch in baulich hervorgehobenen Gräbern, die die Spannung zwischen dem Gleichheitsprinzip und dem Prinzip der Auserwählten plastisch zum Ausdruck brachten.

[34] Ein Beispiel sind die USA mit dem Revolutionskrieg und der zweiten Staatsgründung durch den Bürgerkrieg, in dessen Folge Abraham Lincoln das System der Nationalfriedhöfe schuf. Hier leitet sich der Anspruch aller Staatspräsidenten auf ein Begräbnis auf einem der militärischen Nationalfriedhöfe von ihrer Eigenschaft als Oberbefehlshaber der Streitkräfte ab. Dennoch sind nur zwei Präsidenten – Howard Taft und John F. Kennedy (sowie mehrere seiner Familienmitglieder) in Arlington bestattet; in einem weiteren Fall – dem von Andrew Johnson – ist ein Nationalfriedhof mit zahlreichen Soldatengräbern um ein Präsidentengrab herum entstanden.

[35] Exemplarische Nationalfriedhöfe, die als Grabstätten für politische und militärische Anführer einer siegreichen nationalen und/oder revolutionären Befreiungsbewegung entstanden, sind steinerne Monumentalanlagen, etwa der Kalibata-Heldenfriedhof in Jakarta/Indonesien (erbaut 1953-1954)36, der Friedhof der Märtyrer der Revolution in Pjöngjang/Nordkorea (erbaut 1953, später verlegt und zweimal umgestaltet)37 sowie die Heldenäcker in Harare/Simbabwe (1981-1982)38 und bei Windhoek/Namibia (2001-2002)39. Andererseits sollten auch die US-amerikanischen National Cemeteries eine prägende Wirkung haben. So wurden die südkoreanischen Nationalfriedhöfe in Seoul (1956) und Daejeon (1976) nach US-Vorbild als Kriegsgräberstätten angelegt, die gefallenen Soldaten vorbehalten waren und das Prinzip der Gleichheit auch baulich – als Landschaftsfriedhöfe mit standardisierten Grabsteinen – zum Ausdruck brachten. Systematischer als in den USA werden dort jedoch auch Staatspräsidenten und andere prominente politische Figuren bestattet. Dasselbe gilt für den philippinischen Heldenfriedhof in Taguig bei Manila (1947).40

[36] Der sowjetische Einfluss ist vor allem in solchen Ländern sichtbar, wo marxistisch-leninistisch geprägte Bewegungen den Befreiungskampf für sich entschieden. Dies kommt in Nutzung wie in Architektur zum Ausdruck. Während der Heldenacker in Simbabwe unter anderem als Grabstätte für den Revolutionsführer und amtierenden Präsidenten Robert Mugabe vorgesehen ist, sind auf dem Märtyrerfriedhof in Pjöngjang zwar enge Vertraute des Staatsgründers Kim Il-sung begraben, nicht aber der Präsident selbst. Für diesen wurde der neoklassizistische ehemalige Präsidentenpalast zum weltgrößten Mausoleum umgebaut, wo inzwischen auch der Körper seines Sohnes und Nachfolgers Kim Jong-il ruht. Die Bauart und Formensprache der meisten dieser Anlagen lässt sich letztendlich auf den sozialistischen Realismus sowjetischer Prägung und die dafür entwickelte standardisierte industrielle Produktionsweise zurückführen. So wurden etwa die Heldenäcker in Simbabwe und Namibia vom staatlichen nordkoreanischen Kunst- und Baubetrieb Mansudae Overseas Projects erbaut, wie auch mehrere weitere militärische und Nationaldenkmäler in diesen und anderen afrikanischen Staaten. Mansudae arbeitet, wie die in den 1920er und 1930er Jahren entstandenen sowjetischen izokombinaty, nach dem Prinzip der industrialisierten Serienfertigung. Die Künstler spezialisieren sich auf figürliche, jede Abstraktion vermeidende Darstellungen überlebensgroßer Helden. Wie Meghan Kirkwood am namibischen Beispiel gezeigt hat, machen dieser Stil und die impliziten Bezüge auf Gemeinsamkeiten der entsprechenden revolutionären Befreiungskämpfe durchaus einen großen Eindruck auf die verantwortlichen Staatschefs.41

[37] Eine Besonderheit dieser Anlagen sind die selektiven Bestattungskriterien. Sind die Nationalfriedhöfe in den USA, Südkorea oder den Philippinen in erster Linie Friedhöfe für alle – oder alle gefallenen – Soldaten, gibt in Pjöngjang oder Harare die Loyalität gegenüber dem Staatsgründer den Ausschlag. In Simbabwe etwa betont Präsident Mugabe regelmäßig, der Heldenacker sei für Personen reserviert, die seiner Partei ZANU-PF auch nach Ende des Guerillakriegs (1964-1979) die Loyalität gehalten hätten. Parteikader, die nicht im Krieg gekämpft hatten, gehörten dazu, nicht aber Veteranen der Revolutionären Volksarmee (ZIPRA), die zur oppositionellen Partei für demokratischen Wandel (MDC) gewechselt seien.42

[38] In welcher Tradition steht nun der FMGF? In Anspruch und Planung greift er tatsächlich Elemente auf, die mit Arlington und dem National Cemetery System assoziiert sind.43 Davon zeugte auf visueller Ebene Andrej Bokovs ursprünglicher Entwurf für den Friedhof. Dazu gehört die juristische Festschreibung eines Anspruchs auf ein Staatsbegräbnis; ebenso der Plan, ein Netz solcher Friedhöfe im ganzen Land zu schaffen. In der Praxis knüpft die Anlage bei Sgonniki jedoch bislang eher an die sowjetische geprägte Tradition an, die auch in einigen anderen (post-)sozialistischen Ländern Verbreitung gefunden hat. In der Baugeschichte kommt dies durch den Rückgriff auf den seriellen Monumentalstil zum Ausdruck, in der Nutzung durch den Ausschluss gewöhnlicher, nicht dekorierter Armeeangehöriger von der Bestattung. Am eindrücklichsten macht jedoch den Unterschied zu Arlington deutlich, dass der FMGF seit seiner Eröffnung als militärisches Sperrgebiet nur für enge Angehörige der Toten oder aber auf besondere Anfrage zugänglich ist.

[39] Durch den andauernden Krieg im Donbass hätte sich bereits ein Jahr nach Eröffnung eine traurige Gelegenheit geboten, das Prinzip einer egalitären Bestattung anzuwenden. Dies erwies sich jedoch politisch als nicht praktikabel. Eine Teilnahme Russlands an dem Konflikt wird offiziell abgestritten, Begräbnisse umgekommener Soldaten werden geheim gehalten,44 und im Mai 2015 machte Putin Informationen über den Tod oder die Verletzung von Militärangehörigen während "Spezialoperationen" zu Friedenszeiten zum Staatsgeheimnis.45 Dies steht in markantem Kontrast zur Ukraine, die ihrerseits für das Helden- und Gefallenengedenken in hybrider Form auf sowjetische und westliche Traditionen zurückgreift. Hier fand einerseits 2014-2015 ein mit geradezu pedantischer Transparenz abgehaltener offener Wettbewerb für ein Denkmal für die "Himmlische Hundertschaft" statt, die zivilen Opfer des Euromaidan, den ein Künstlerkollektiv aus Rimini für sich entschied.46 Andererseits schrieb das Kiewer Institut für Nationales Gedächtnis im Juni 2015 einen Wettbewerb aus, in dessen Zuge ein Standard-Grabstein für die in der "Antiterror-Operation" im Donbass gefallenen ukrainischen Soldaten entworfen werden sollte – eine Reminiszenz an eine sowjetische Vorlage von 1946-1947,47 erweitert um nationalpatriotische Elemente.48

[40] Die Zukunft des FMGF bleibt offen. Entscheidend werden große Entwicklungstendenzen sein: die immer weiter wachsende Bedeutung des Großen Vaterländischen Kriegs für das nationale Selbstverständnis, das militärische Engagement über die Landesgrenzen hinaus und der Wandel im gesellschaftlichen und politischen Status von Russlands Armee.

Gastherausgeber des Special Issues
Christian Fuhrmeister und Kai Kappel (Hg.), Die Bauaufgabe Soldatenfriedhof / Kriegsgräberstätte zwischen 1914 und 1989. War Graves, War Cemeteries, and Memorial Shrines as a Building Task, 1914-1989, in: RIHA Journal 0150-0176

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1 Eine Auswahl: Sabine Arnold, Stalingrad im sowjetischen Gedächtnis. Kriegserinnerung und Geschichtsbild im totalitären Staat, Bochum 1998, 218-303; Helga Köpstein, Die sowjetischen Ehrenmale in Berlin, Berlin 2006 (detailreich, aber Konflikte aussparend); Lisa Kirschenbaum, The Legacy of the Siege of Leningrad, 1941-1995: Myth, Memories, and Monuments, Cambridge 2009; Karl Qualls, From Ruins to Reconstruction: Urban Identity in Soviet Sevastopol after World War II, Ithaca, NY 2009; Scott W. Palmer, "How Memory Was Made: The Construction of the Memorial to the Heroes of the Battle of Stalingrad", in: The Russian Review 68 (2009), Nr. 4, 373-407; Aleksei Lastouski, Roman Khandozhko und Iryna Sklokina, Rethinking the Soviet Memory of [sic] 'Great Patriotic War' from the Local Perspective: Stalinism and the Thaw, 1943-1965 [2012], http://www.historians.in.ua/docs/monografiyi/30-rethinking-the-soviet-memory.pdf (aufgerufen am 29. November 2016).

2 Mischa Gabowitsch, "Russia's Arlington? The Federal Military Memorial Cemetery Near Moscow", in: Journal of Soviet and Post-Soviet Politics and Society 2:2 (2016), 89-143; deutsche Fassung: "Russlands Arlington? Der Föderale Militärische Gedenkfriedhof bei Moskau", in: Osteuropa 67:5 (2017), 25-59. Dieser Text enthält auch zahlreiche Belege für die im vorliegenden Aufsatz angestellten Beobachtungen zum FMGF sowie zur sowjetischen Gedenktradition.

3 Dieser Artikel entstand im Rahmen eines Forschungsprojekts zur kollektiven Biografie sowjetischer Kriegsdenkmäler, für dessen großzügige Finanzierung ich der Hamburger Stiftung für Wissenschaft und Kultur danken möchte. Alle Übersetzungen aus dem Russischen stammen von mir.

4 N. G. Tomilina et al. (Hg.), Pamjatnik Pobedy: istorija sooruženija memorial‘nogo kompleksa Pobedy na Poklonnoj gore v Moskve: sbornik dokumentov, 1943-1991 g., Moskau 2005.

5 Roman Fomišenko, "Panteon russkoj slavy" [Interview des Verfassers mit Sergej Gorjaev], in: Rossijskoe voennoe obozrenie, 31.7.2007; Viktor Mjasnikov, "Memorial pod plenkoj", in: Nezavisimoe voennoe obozrenie, 11.3.2011.

6 Merve Yucel, Segregated Landscapes. Kottedzhi of Rubljovka, Moskau 2011, http://issuu.com/strelkainstitute/docs/cottages?e=3330278/9000740 (aufgerufen am 4. Juli 2016).

7 Erlass Nr. 829, 11.7.2001.

8 Viktor Mjasnikov, "Memorial pod plenkoj", in: Nezavisimoe voennoe obozrenie, 11.3.2011.

9 Postanovlenie Pravitel’stva RF, "O Federal’nom voennom memorial’nom kladbišče", 25.2.2004, Nr. 105.

10 "Razrabotka koncepcii architekturnogo oblika zastrojki Federal’nogo voennogo memorial’nogo kladbišča v Mytiščinskom rajone Moskovskoj oblasti", in: Konkursnye torgi, 10.12.2001, http://gostorgi.ru/91-122.htm (aufgerufen am 29. November 2016).

11 Interview des Verfassers mit Aleksandr Taranenko von Mosproekt-4, einem der für den Entwurf verantwortlichen Architekten, Moskau, 23.10.2015.

12 Die folgende Beschreibung beruht auf einem Präsentationsvideo – abrufbar unter http://realty.newsru.com/article/08Jul2013/mvmk_mytishi (aufgerufen am 4. Juli 2016) –, der reichhaltigen Bilddokumentation von Mosproekt-4 unter http://www.mniip.ru/projectsframe/1/0/46/ (aufgerufen am 4. Juli 2016) sowie einem illustrierten Feature in Russlands wichtigster Architekturzeitschrift: [o. A.], "Final/Death", in: Project Russia 39 (2006), 132-140. Für zusätzliche Erläuterungen danke ich Georgij Franguljan und Aleksandr Taranenko.

13 Interview des Verfassers mit Aleksandr Taranenko, Moskau, 23.10.2015. Die auf der Webseite von Mosproekt-4 veröffentlichten Entwurfszeichnungen zeigen nur ein Wappentier, das des Staates.

14 Interview des Verfassers mit Aleksandr Taranenko, 23.10.2015.

15 Stepan Krivošeev, "Ne vse tam budem", in: Itogi, 16.04.2007; Stepan Chodnev, "Razljuli mogila", in: Kommersant-vlast‘, 21.6.2010; Fomišenko, "Panteon russkoj slavy"; Ol’ga Safonova, "Neumestnye razdory", in: Krasnaja zvezda, 18.6.2008.

16 Natal’ja Brileva, "Panteon s veslom", in: Trud, 20.5.2008.

17 "Vladimira Putina pochoronjat v Mytiščach", Pravda.ru, 22.4.2003, http://www.pravda.ru/politics/22-04-2003/838641-0/ (aufgerufen am 4. Juli 2016).

18 Chodnev, "Razljuli mogila".

19 Ol’ga Bož’eva, "Otkrytija federal’nogo voennogo kladbišča ždali 20 let", in: Moskovskij komsomolec, 21.6.2013.

20 Irina Fil’čenkova, "Architekturnyj konflikt", in: Archi.ru, 2.2.2007, http://archi.ru/russia/3422/arhitekturnyi-konflikt (aufgerufen am 4. Juli 2016).

21 Igor‘ Machovskij, "Naš rossijskij Arlington", in: Moskovskij komsomolec, 6.12.2006.

22 Solche hohen Stelen waren bereits in der Planungsphase im Gespräch gewesen; der Chefarchitekt des Bezirks soll jedoch davon abgeraten haben, weil bereits Anfang der 2000er der Bau neuer Hochhäuser in unmittelbarer Nähe des Friedhofs vorgesehen war, zu denen vertikale Gebilde in Konkurrenz stehen würden. Interview des Verfassers mit Aleksandr Taranenko, 25.10.2015.

23 Fil’čenkova, "Architekturnyj konflikt".

24 Safonova, "Neumestnye razdory".

25 Fil’čenkova, "Architekturnyj konflikt".

26 Sergej Fekljunin, "Na kladbišče bespokojnen’ko", in: Moskovskij komsomolec, 28.5.2008.

27 Krivošeev, "Ne vse tam budem".

28 Machovskij, "Naš rossijskij Arlington"; Tat’jana Netreba, "Kladbišče dlja prezidentov", in: Argumenty i fakty, 14.3.2007; Fomišenko, "Panteon russkoj slavy".

29 Jay Winter, Sites of Memory, Sites of Mourning. The Great War in European Cultural Memory, Cambridge 1998.

30 Bož’eva, "Otkrytija federal’nogo voennogo kladbišča ždali 20 let".

31 Natalija Danilova, "Kontinuität und Wandel: Die Denkmäler des Afghanistankrieges", in: Kluften der Erinnerung: Rußland und Deutschland 60 Jahre nach dem Krieg (= Osteuropa, 4-6), Berlin 2005, 367-386.

32 Nikolaj Zubov, "Čem Amerika podelilas‘ s Rossiej", in: Kommersant-vlast‘, 21.6.2010.

33 Bož’eva, "Otkrytija federal’nogo voennogo kladbišča ždali 20 let".

34 Reinhart Koselleck, "Kriegerdenkmale als Identitätsstiftung der Überlebenden", in: Identität, hg. v. Odo Marquard und Karlheinz Stierle, München 1979 (= Poetik und Hermeneutik, 8), 255-276.

35 Manfred Hettling, "Nationale Weichenstellungen und Individualisierung der Erinnerung. Politischer Totenkult im Vergleich", in: Gefallenengedenken im globalen Vergleich. Nationale Tradition, politische Legitimation und Individualisierung der Erinnerung, hg. v. Manfred Hettling und Jörg Echternkamp, München 2013, 11-42.

36 Klaus H. Schreiner, Politischer Heldenkult in Indonesien, Berlin/Hamburg 1995, 172-174.

37 Heonik Kwon und Byung-Ho Chung, North Korea: Beyond Charismatic Politics, Lanham, MD 2012, 101-125.

38 Richard Werbner, "Smoke from the Barrel of a Gun: Postwars of the Dead, Memory and Reinscription in Zimbabwe", in: Memory and the Postcolony. African Anthropology and the Critique of Power, hg. v. Richard Werbner, London/New York 1998, 71-102.

39 Heike Becker, "Commemorating Heroes in Windhoek and Eenhana: Memory, Culture, and Nationalism in Namibia, 1990-2000", in: Africa: The Journal of the International African Institute 81 (2011), Nr. 4, 519-543.

40 Eine Sonderstellung nimmt der Herzlberg in Jerusalem als israelischer Nationalfriedhof ein, wo der politische und der militärische Teil räumlich getrennt sind.

41 Vgl. Meghan L. E. Kirkwood, "Postindependence Architecture through North Korean Modes. Namibian Commissions of the Mansudae Overseas Project", in: A Companion to Modern African Art, hg. v. Gitti Salami und Monica Blackmun Visona, Somerset, NJ 2013, 548-571, hier 548f.

42 Darauf macht auch Manfred Hettling aufmerksam, der revolutionäre Märtyrerkulte neben religiösen Äquivalenten als eine Gegenbewegung zur allgemeinen Egalisierungstendenz identifiziert (Hettling, "Nationale Weichenstellungen").

43 Zu Arlington vgl. Robert M. Poole, On Hallowed Ground: The Story of Arlington National Cemetery, New York 2009. Zum National Cemetery System insgesamt unter dem Gesichtspunkt der Landschaftsarchitektur vgl. Michael A. Stern, "The National Cemetery System: Politics, Place, and Contemporary Cemetery Design", in: Places of Commemoration: Search for Identity and Landscape Design, hg. v. Joachim Wolschke-Bulmahn, Washington, DC 2001, 107-130.

44 Vgl. z.B. Aleksej Semenov, "Vojna spišet vse", in: Pskovskaja gubernija, 26.7.2014.

45 Erlass Nr. 273, 28.5.2015.

46 Zahlreiche Dokumente zur Ausschreibung finden sich unter http://vk.com/memorialnebesnasotnya (aufgerufen am 4. Juli 2016).

47 [o. A.], Tipovye proekty pamjatnikov bratskich i individual’nych mogil voinov sovetskoj armii, voenno-morskogo flota i partizan, pogibšich v bojach s nemecko-fašistskimi zachvatčikami v gody Velikoj Otečestvennoj vojny, Moskau 1947.

48 U. a. dürfen die Inschriften ausschließlich in ukrainischer Sprache verfasst sein und die Entwürfe müssen einen "ausgeprägten patriotischen Bestandteil" aufweisen. "Zaprošujut‘ vzjaty uchast‘ u konkursi proektiv typovogo nadgrobka na pochovannjach zagyblych v ATO", http://www.memory.gov.ua/announce/zaproshuyut-vzyati-uchast-u-konkursi-proektiv-tipovogo-nadgrobka-na-pokhovannyakh-zagiblikh (aufgerufen am 4. Juli 2016).