DOI: http://dx.doi.org/10.11588/ip.2016.2.29123

Beat MATTMANN

Die digitale Zugänglichkeit von Archivalien: Stand der Dinge aus Praxissicht

Zusammenfassung

Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg – ein Sprichwort, das bei der Digitalisierung von Kulturgut nicht immer gilt, wie dieser Artikel zeigt. Natürlich sind die Chancen der Digitalisierung allgemein bekannt. Der Weg zur Nutzung dieser Chancen ist allerdings nicht selten steinig. Eine Digitalisierung ist weder günstig, wie dieser Artikel vorrechnet, noch rechtlich immer unproblematisch. In der Praxis zeigt sich jedoch ein kreativer Umgang mit diesen Hürden – durch effiziente Ressourcennutzung, aber auch progressive Rechtsauslegungen oder Beteiligung an Gesetzesrevisionen. Mit diesem Willen ist man also, trotz ungünstiger Rahmenbedingungen, auf einem guten Weg, auch wenn dieser Geduld erfordert.

Schlüsselwörter

Archiv, Sondersammlung, Selektion, Urheberrecht, Digitalisierungskosten

Digital accessibility of archival materials: State of things from a practical view

Abstract

Where there is a will, there's a way – a proverb that is not always true in the digitization of cultural property, as this article shows. Of course, the opportunities of digitization are generally known. However, the way of using these opportunities is often cumbersome. Neither is digitization cheap, as this article calculates. Yet it isn’t always legally unproblematic, too. In practice, however, a creative approach to these obstacles is often shown – through efficient use of resources, but also by progressive legal interpretations or participation in legislative reforms. Although this approach requires patience, digitization is in spite of unfavorable conditions on the right track.

Keywords

Archive, special collection, selection, copyright, costs of digitization

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Was kann eine umfassende retrospektive Digitalisierung bieten?

3 Wo liegen die Hindernisse?

4 Fazit

Literatur

Autor

1 Einleitung

„Jedermann zu jeder Zeit und von jedem Ort aus frei zugänglich“ (Dreier, 2014) – so lautet das Versprechen des Trends rund um die Digitalisierung und des digitalen Zugänglichmachens von Objekten aus Gedächtnisinstitutionen. Ein Versprechen, das einige Fachpersonen sogar so wörtlich nehmen, dass sie bereit sind, eine hitzige Diskussion zu entfachen, wie das Interview der NZZ am Sonntag mit Rafael Ball, dem Direktor der ETH-Bibliothek im Februar 2016, und die verschiedenen Reaktionen darauf belegen (siehe dazu das Interview bei Furger 2016 und eine Auswahl der Reaktionen unter Steiner 13. Feb. 2016). Besonnenere Geister versuchen sich derweil mit verschiedenen Projekten rund um Massendigitalisierungen, Angebote von eBooks und eJournals, Forschungsdatenmanagement und Linked Open Data Schritt für Schritt in die Richtung dieses Versprechens zu bewegen.

Der Trend kann aber erst dann richtig Fuss fassen, wenn die möglichen Beteiligten (also Bibliotheken, Archive, Verlage usw.) auch die Ressourcen und den Willen haben, um Digitalisate herzustellen und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Je nach Grösse und vorhandenem Budget der Beteiligten ist aber der Wille oft einfacher zu finden, als die nötigen Ressourcen (insbesondere wenn sich beispielsweise der Träger der Institution krisenbedingt wieder einmal einem Sparzwang unterwirft). Das betrifft neben kleineren Bibliotheken und Archiven insbesondere auch bibliothekarische Sondersammlungen, deren Archivalien (mittelalterliche Handschriften, Karten, Grafiken, Archivbestände, audiovisuelle Medien uvm.) durch ihre materielle Vielfalt und ihre Fragilität eine grosse Bandbreite an Herausforderungen bieten.

Ungeachtet des emotionalen Gehalts nach der jüngsten Kontroverse wird in diesem Artikel das Thema aus der Sicht des archivischen Alltags erörtert und die Vorteile, die mehrheitlich allgemein bekannt sein dürften, aber vor allem auch die praktischen Hürden auf dem Weg zu einer umfassenden digitalen Zugänglichkeit aufgezeigt. Da in diesem Umfeld weniger eBooks und eJournals, Open Access oder Forschungsdatenbanken ein Thema sind, liegt der Fokus der Schilderungen auf der retrospektiven Digitalisierung, also der digitalen Zugänglichmachung ursprünglich analoger Objekte. Audiovisuelle Medien werden aber nur am Rande gestreift, da sie aufgrund ihrer Materialart und der Trägervielfalt noch einmal eine deutliche Steigerung im Schwierigkeitsgrad darstellen. Letztlich soll der Artikel nicht einfach ein weiterer Beitrag zur Debatte pro oder kontra Digitalisierung darstellen, sondern vielmehr einen Blick auf die Hürden der alltäglichen Praxis eröffnen und durchaus auch Wege aufzeigen, wie einzelnen Problemen begegnet werden kann und weshalb sich die Lösung der Schwierigkeiten letztlich doch lohnt.

2 Was kann eine umfassende retrospektive Digitalisierung bieten?

Die Vorteile des digitalen Trends wurden bereits an unzähligen Orten in mehr oder weniger grosser Ausführlichkeit erörtert. Nichtsdestotrotz soll nachfolgend noch einmal auf die wichtigsten Vorteile eingegangen und vor allem auch die praktischen Möglichkeiten für obengenannte Institutionen angesprochen werden.

Der Hauptvorteil der retrospektiven Digitalisierung liegt klar in der verbesserten Zugänglichkeit. Nutzer_innen können, sofern die Digitalisate online zugänglich sind, unabhängig von Zeit und Ort auf die Objekte zugreifen, womit man in vielen Fällen durchaus von einer Revolutionierung des Archivzugangs sprechen kann. Damit entfällt eine aufwändige und durchaus auch teure Anreise zur beherbergenden Institution, nur um dann eventuell festzustellen, dass das konsultierte Objekt doch nicht die Erkenntnisse bringt, die man sich als NutzerIn erhoffte. Zusätzlich besteht so die Möglichkeit, konservatorisch hochgradig gefährdete Objekte wieder einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen zu können. Das Angebot der digitalen Konsultation wird rege genutzt, wie Neuböck (2014:121-122) beispielhaft mit Nutzungszahlen dokumentiert. Ein weiterer Aspekt ist die Möglichkeit, audiovisuelle Medien endgeräteunabhängig konsultieren zu können. Damit entfällt das höchst problematische und aufwändige Abspielen alter 8mm-Filmbänder oder Drahtspulen auf Geräten, die selbst bereits ins Museum gehörten (mit der stets vorhandenen, grossen Gefahr, das unikale Medium beim Abspielen unwiederbringlich zu zerstören).

Möglichkeiten zur Zugänglichmachung der Digitalisate bieten heute, neben den konventionellen Bibliotheks- und Archivkatalogen, viele Portale. In der Schweiz mit die bekanntesten dürften die vom Bund geförderten Portale e-manuscripta (http://www.e-manuscripta.ch), e-rara (http://www.e-rara.ch) und e-codices (http://www.e-codices.unifr.ch) oder auch Memobase (http://www.memobase.ch) sein. Im weiteren deutschsprachigen Raum sind insbesondere das Archivportal Europa (http://www.archivesportaleurope.net) und die Europeana (http://www.europeana.eu) zu nennen. Dies nur als kleine Auswahl, wobei auch bereits klar geworden sein dürfte, wo hier ein Problem liegen könnte: Wo bei den konventionellen Bibliotheks- und Archivkatalogen ein Trend hin zum grossen Meta-Katalog wie beispielsweise WorldCat (http://www.worldcat.org), Swissbib (http://www.swissbib.ch), Archives-Online (http://www.archives-online.org) oder auch dem Verbundkatalog HAN (http://aleph.unibas.ch/han) eingesetzt hat, so findet man bei Digitalisat-Katalogen oftmals noch eine grosse Auswahl an Portalen, bei denen vielen Nutzer_innen nicht auf Anhieb klar sein dürfte, ob ein einzelnes Portal ihr Suchbedürfnis optimal befriedigen kann, da viele Portale sich auf spezifische Objekttypen konzentrieren (beispielsweise alte Drucke, Handschriften, Fotografien, Musik u.ä.). Der Upload von Digitalisaten auf diesen Portalen bietet aber für die beherbergende Institution die grosse Chance, ihren Bekanntheitsgrad zu vergrössern, auch über die Landesgrenzen hinaus. Die Attraktivität von Bildern in der heutigen Zeit ermöglicht zudem deren Einsatz im Bereich der Werbung und Public Relations der Institution.

Neben der reinen Zugänglichmachung bieten die Digitalisate auch Chancen zur Lösung verschiedener Erschliessungsschwierigkeiten. Die inhaltliche Erschliessung von Textdokumenten beispielsweise kann mittels OCR-Volltextdurchsuchbarkeit automatisiert oder zumindest stark vereinfacht werden. Insbesondere behördliche Aktenserien oder serielle Dossiers von Unternehmen, die heute in Archiven selten wirklich tief erschlossen werden, könnten so besser zugänglich gemacht werden. Allerdings beherrschen die heutigen OCR-Programme noch längst nicht alle Schrifttypen mit einer akzeptablen Fehlertoleranz, gerade im historischen Bereich. Ein besonderes Erschwernis bilden handschriftliche Texte. Laut Muehlberger (2015, 94) kämpfen heutige Programme zur Handwritten Text Recognition (HTR) immer noch mit Fehlerquoten von 10 bis 60% je Seite. Bei Fotografien und Filmen wiederum kann durch kollaborative Erschliessungsstrategien auf externes Wissen bei der Identifikation von Personen, Orten und des Kontexts zurückgegriffen werden. Ein bekanntes Beispiel dafür aus der Schweiz ist die Erschliessung des Foto-Archivs der Anfang dieses Jahrhunderts konkursgegangenen Schweizer Airline Swissair durch ehemalige Mitarbeitende (Graf 2014).

Ein weiterer Vorteil ist die Unterstützung bei der Bestandsvernetzung und der Kontextualisierung verschiedener Bestände, die über mehrere Institutionen verteilt sind. Insbesondere mit den Bestrebungen rund um Normdatenbanken und Linked (Open) Data bieten sich in dieser Hinsicht enorme Möglichkeiten. Ein Beispiel: Künftig könnten auf der ganzen Welt verstreute Archivbestände oder Nachlassbibliotheken anhand von Vorbesitzer- oder Aktenbildnervermerken virtuell zusammengeführt und an einem Ort digital konsultierbar gemacht werden. Das macht Sinn, wurden doch in der Vergangenheit nicht wenige Gelehrtennachlässe durch Erben und/oder durch interessierte Archive und Bibliotheken aufgeteilt oder verkauft. Auch thematisch zusammengehörige Bestände könnten nach diesem Prinzip digital an einem Ort zusammengeführt werden, so dass es beispielsweise möglich wäre, das gesamte Werk von Erasmus von Rotterdam digital und im Original via Internet erforschen zu können. Idealerweise könnte dafür ein allgemeines Portal genutzt werden, ohne dass in einem Editions- oder Forschungsprojekt eine eigene Webseite kreiert werden müsste. Zuletzt dürften auch die Netzwerke von Wissenschaftler_innen auf Interesse bei Nutzer_innen stossen, wenn auf der Grundlage digitalisierter Briefwechsel die weltweiten Forschungskontakte abgebildet und nachverfolgt werden können.

3 Wo liegen die Hindernisse?

Ungeachtet des grossen Potentials der retrospektiven Digitalisierung gibt es aber auch nicht unbedeutende Hürden auf dem Weg zu dessen Ausschöpfung zu überwinden. Der meistgenannte Einwand dürften wohl die nicht geringen Kosten einer retrospektiven Digitalisierung sein. Aus der Erfahrung des Autors und im Vergleich verschiedener nicht-öffentlicher Kostenübersichten kann beispielhaft mit einem Seitenpreis zwischen 2,00 und 4,00 CHF gerechnet werden. Die effektive Kostenhöhe ist dabei abhängig vom Zustand des Objekts (je fragiler, desto zeitaufwändiger), von den zu verwendenden Geräten (serielle Scans für Loseblätter auf Flachbettscannern bis individuelle Aufnahmen mit Digitalkameras) und der angestrebten Qualität (welche abhängig ist vom Ziel der Digitalisierung, siehe dazu Berger 2015, 27-28). Zudem muss berücksichtigt werden, dass wohl nicht alle Kostenübersichten auf einer Vollkostenrechnung basieren dürften. Neben den Digitalisierungskosten sind auch verschiedene Beträge für die Erschliessung und Digitalisierungsvorbereitung vorab und die Qualitätskontrolle danach zu berücksichtigen (einen kurzen, praktischen Einblick in die nötigen Arbeitsschritte bietet beispielsweise Kreyenbühl 29. Feb. 2016). Darauf basierend kann ein konkretes Rechnungsbeispiel gemacht werden: im Nachlass eines Theologen, der mit siebzig Laufmetern einen eher moderat grossen Umfang besitzt, befinden sich rund 35.000 Briefe. Würde man diese digitalisieren wollen und ginge dabei von einer geschätzten durchschnittlichen Länge je Brief von drei Seiten aus (wobei unbeschriftete Rückseiten nicht digitalisiert werden würden), müsste man bei obigen Preisansätzen zwischen 210.000 und 420.000 CHF investieren. Und dabei wäre erst ungefähr die Hälfte des gesamten Nachlasses digitalisiert, da noch unzählige Manuskripte, Fotografien und andere Objekte vorhanden sind. Auf ganz ähnliche Kosten kommt auch Glauert (2013, 50), der für den gesamten Digitalisierungsworkflow auf der Basis von Zahlen des Deutschen Bundesarchivs und eines Berichts an das Comité des Sages der europäischen Kommission mit einem Seitenpreis zwischen 1,25 und 4 € rechnet. Sind die einmaligen Digitalisierungskosten schon hoch, so wird oft vergessen, dass jährlich wiederkehrende Kosten zu budgetieren sind, nämlich für die Onlinehaltung der Digitalisate auf den verschiedenen Portalen, für Speichermedien und die (Langzeit-)Archivierung.

Aufgrund dieser Kosten und der in Bibliotheken und Archiven notorisch begrenzten Ressourcen ist eine Auswahl des zu digitalisierenden Bestandes unumgänglich. Die Auswahl kann unterschiedlich begründet werden: der generelle Wunsch nach digitaler Zugänglichmachung dürfte am verbreitetsten sein und äussert sich in gezielten Projekten, beispielsweise zur Digitalisierung von Fotosammlungen zu spezifischen aktuellen Themen oder der Digitalisierung der wichtigsten und zentralen Bestände eines Archivs (sogenannter Rückgratbestände). Neben diesen von den Institutionen intendierten Projekten äussern aber auch Nutzerinnen und Nutzer Wünsche, denen meist mit einer Digitalisierung on-demand begegnet wird. In der Regel werden die hierbei auf Nutzerkosten erstellten Digitalisate auch der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Zuletzt kann aber auch der Sicherungsgedanke eine Motivation sein. Bei Objekten von fragilem Zustand kann durch eine Schutzdigitalisierung der aktuelle Stand gesichert und das Original vor allzu intensiver Benutzung bewahrt werden. Dennoch gibt es immer Fälle, in denen Nutzer_innen das Original physisch konsultieren möchten, beispielsweise bei Fragen zur Materialität oder zwecks Vorbereitung einer Ausstellung des Objekts.

Dem Versprechen der langfristigen Sicherung und Archivierung digitaler Daten stehen heute aber noch immer einige Stimmen gegenüber, die zur Vorsicht mahnen (einen guten und kurzen Überblick über die Risiken der Digitalisierung gibt Iordanidis (2014)). Diese Vorsicht zeigt sich nicht nur in der Bewertung der Verlässlichkeit digitaler Speicherstrategien. Auch ganz generell entdeckt Gillner (2013, 412) in der deutschen Archivwelt Desinteresse und Skepsis gegenüber den neuen Medien und darauf aufbauender archivischer Dienstleistungen.

Auch wenn insgesamt eine gewichtige Motivation vorhanden ist, so scheitern Digitalisierungswünsche doch regelmässig an rechtlichen Hürden, da eine Zugänglichmachung einer erneuten (oder auch erstmaligen) Publikation gleichkommt bzw. sensible Inhalte für eine breite Allgemeinheit ohne grossen Aufwand einsehbar würden. Im schweizerischen Urheberrecht ist festgelegt, dass ein Werk erst 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers gemeinfrei wird (Rüetschi 2011:17). Bis dahin können Werke nur eingeschränkt genutzt werden. Eine ganz eigene Kategorie sind die verwaisten Werke, also Werke, deren Urheber nicht ausfindig gemacht werden können. Dafür gibt es zwar rechtliche Regelungen für Ton- und Tonbildträger (Art. 22b des Schweizerischen Urheberrechtsgesetzes), für andere Medientypen fehlen diese jedoch – ein Umstand, den der Berufsverband Bibliothek Information Schweiz (BIS) in der aktuell geplanten Revision des Schweizer Urheberrechtsgesetzes beheben möchte (AGUR12 2013:55 bzw. Anhang 6.9). Kopien von nicht gemeinfreien Werken für den sogenannten Eigengebrauch sind zwar erlaubt (was Digitalisate miteinschliesst). Nicht erlaubt ist jedoch, dass diese Kopien wiederum der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, also die Digitalisate auf einem Portal wie e-manuscripta online gestellt werden. Der Eigengebrauch wird auch dadurch eingeschränkt, dass keine vollständigen Kopien eines Werks erstellt werden dürfen (siehe dazu Rüetschi 2011:19-21). Interessanterweise gibt es jedoch in der Praxis regelmässig Unsicherheiten und damit auch unterschiedliche Ansichten, sowohl konservative als auch progressive, über die Auslegung des Urheberrechts (vgl. dazu etwa Kühnel 26. Nov. 2015). Dies geht soweit, dass ein Teilnehmer an einem archivrechtlichen Workshop der Universität Bayreuth im April 2016 sogar der Ansicht war, dass die „Übergabe eines Nachlasses an ein Archiv [...] eine konkludente Veröffentlichungshandlung“ sei (Kühnel 18. April 2016) – und damit die Zugänglichmachung im Archiv wohl als vom Urheber erlaubte Veröffentlichung zu betrachten wäre. Bislang scheint dazu im deutschsprachigen Raum jedoch noch keine gerichtliche Klärung nötig gewesen zu sein, womit die Unsicherheit weiter anhalten dürfte.

Neben diesen vielen urheberrechtlichen Einschränkungen kommen bei Archivalien weitere Schranken hinzu. Zieht man das baselstädtische Archivgesetz als Beispiel heran, so gilt für jegliches Archivgut eine Schutzfrist von 30 Jahren ab dessen Entstehung (Art. 10). Während dieser Zeit ist eine Benutzung nur in Ausnahmefällen gestattet, was die digitale Zugänglichmachung selbstverständlich mit einschliesst. Würden mit der Einsichtnahme zudem schutzwürdige Interessen verletzt (bezieht sich also das Archivale auf schützenswerte Informationen zu einer natürlichen Person), kann diese Schutzfrist ausgedehnt werden, im Extremfall bis 100 Jahre nach Geburt der betroffenen Person bzw. 80 Jahre nach Entstehung des Werks. Je nach Medientyp spielen zudem weitere Rechtsgrundsätze wie das Recht am eigenen Bild eine Rolle.

Zusammengefasst: Aus rechtlichen Gründen können Digitalisate vieler Objekte noch mehrere Jahrzehnte lang nicht öffentlich zugänglich gemacht werden und die Nutzung bleibt, wenn überhaupt möglich, auf eine Konsultation vor Ort bzw. digital im sogenannten Eigengebrauch beschränkt.

4 Fazit

Auch wenn die Kontroverse um das Interview von Rafael Ball eine eher kritische Haltung von Bibliotheken und Archiven gegenüber der digitalen Zugänglichmachung von Objekten aus Gedächtnisinstitutionen vermuten lässt, so arbeiten diese doch schon seit längerem an der Realisierung dieser Vision. Man beachte nur schon die vielen Projekte zu Massendigitalisierungen, die in den letzten Jahren von vielen Bibliotheken und Archiven lanciert wurden. Grundsätzlich ist die retrospektive Digitalisierung also keine Frage des Willens, sondern vielmehr der Möglichkeiten. Die wohl grösste Herausforderung ist die Deckung der Kosten der Digitalisierung, die aber auch kaum zu verringern sind, will man ein Minimum an Qualität erreichen und die Voll- bzw. Folgekosten berücksichtigen. Ganz ähnlich fasst auch Berger (2015, 23) das Dilemma zusammen:

„[Die Digitalisierung eines ganzen Archivs] ist durch die reine Masse des Archivguts in absehbarer Zeit nicht mit den vorhandenen Mitteln zu bewältigen.“

Oder wie Glauert (2013, 54) es ausdrückt:

„Eine Volldigitalisierung aller Archivbestände wäre zwar wünschenswert, erscheint aber auch langfristig weder wahrscheinlich noch wirtschaftlich.“

Vor allem im Hinblick auf die Wirtschaftlichkeit sollte eine Digitalisierung vorwiegend im Rahmen der Bereitstellung von wichtigen, wertvollen oder fragilen Einzelstücken und (Teil-)Sammlungen angestrebt werden. Die finanziellen Herausforderungen werden jedoch dicht gefolgt von den rechtlichen, die eine Digitalisierung zum Zweck der öffentlichen Zugänglichmachung oft gar nicht erst erlauben. Gerade in diesem Bereich wird jedoch an verschiedenen Stellen versucht, die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu verbessern oder zumindest weitere Einschränkungen zu verhindern (vgl. dazu AGUR12 2013). Hinsichtlich der Digitalisierung ist man also, trotz stellenweise sehr ungünstiger Rahmenbedingungen, auf einem guten Weg, auch wenn dieser Weg Geduld erfordert und gelegentlich Verbesserungspotential bieten mag. Langfristig dürfte sich aber die Inangriffnahme dieses (Mammut-)Projekts in jeder Hinsicht lohnen. Nicht nur im Hinblick darauf, dass Nutzer_innen wohl vermehrt die digitale Zugänglichkeit nachfragen und sogar erwarten werden, sondern auch aufgrund der Unterstützung der (inhaltlichen) Erschliessung und dem Beitrag zur Kontextualisierung von Werken und Beständen verschiedener Institutionen. Abschliessend stellt der Imagegewinn und die mögliche Weiternutzung der Digitalisate für Werbungszwecke die Kirsche auf dem (digitalen) Sahnehäubchen dar.

Literatur

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Autor

Beat Mattmann, Mühleweg 17, CH-4133 Pratteln

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