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DOI: https://doi.org/10.11588/ip.2022.1.89240
Waren Öffentliche Bibliotheken im DACH-Raum 2020 in einer Krise? Ein Blick auf die Bibliotheksstatistiken
Zusammenfassung
Ein britischer Text, welcher die Nutzung der Public Libraries im Fiscal Year 2020/21 untersuchte, stellte fest, dass die COVID-19 Pandemie zu einem krisenhaften Einbruch der Nutzungszahlen führte. Um zu überprüfen, ob dies auch für die Öffentlichen Bibliotheken in der Schweiz, Österreich und Deutschland gilt, werden die betreffenden Bibliotheksstatistiken, soweit möglich, mit den gleichen deskriptiven statistischen Analysen untersucht. Es zeigt sich, dass die COVID-19 Pandemie für die Öffentlichen Bibliotheken dieser drei Länder auch herausfordernd war, sie aber weit besser abschnitten. Die Rückgänge halten sich, ausser bei den physischen Besuchen, in Grenzen, teilweise kam es sogar zu Zuwächsen.
Schlüsselwörter
COVID-19, Bibliotheksnutzung, Bibliotheksstatistik, Öffentliche Bibliotheken
Did public libraries in the German-speaking countries experienced a crisis in 2020? A look at the library statistics
Abstract
An article, which explores the usage data for public libraries in the fiscal year 2020/21, notes a critical drop yield by the COVID-19 pandemic. To ascertain if this holds true for Swiss, Austrian, and German public libraries as well, data from the respecting library statistic where analysed, using the same descriptive statistical methods as in the British text. Results show that the pandemic was challenging for those as well, but they managed to yield much better results. Decreases in usage remained relatively low, except for physical visits. Partly even gains where achieved.
Keywords
COVID-19, usage, library statistics, public libraries
Veröffentlichung: 20.12.2022 in Informationspraxis Bd. 8, Nr. 1 (2022)
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
In ihrem Text “The Impact of COVID-19 Lockdowns on Public Libraries in the UK: Findings from a National Study” zeichnen David McMenemy, Elaine Robinson und Ian Ruthven das Bild einer Krise, in welche die britischen Öffentlichen Bibliotheken durch die COVID-19 Pandemie geraten seien. (McMenemy et al. 2022) Die Besuchszahlen seien – so zumindest ihre etwas umständliche Auswertung nicht ganz vollständiger Daten – eingebrochen, ebenso die Ausleihen physischer Medien. Der Anstieg elektronischer “Ausleihen” hätte diesen Rückgang nicht aufgehalten.
Gleichwohl legen sie mit dem Text Daten vor, welche mit denen anderer Länder verglichen werden können, um beispielsweise zu klären, ob sie eine allgemeine Krise von Öffentlichen Bibliotheken aufzeigen – oder vielleicht nur eine in Grossbritannien.
Die hier vorgestellte Studie führt einen solchen Vergleich, auf der Basis der Daten der deutschen, österreichischen und schweizerischen Bibliotheksstatistik durch.1 (Für Liechtenstein, das vierte Land im DACH-Raum, liegen diese Daten nicht vor.) Die vorliegenden Daten lassen sich, wie weiter unten diskutiert wird, nicht direkt mit denen aus Grossbritannien vergleichen. Es lassen sich aber Tendenzen zeigen.
Aufgebaut ist der Text wie folgt. Im nächsten Kapitel (2.) werden kurz das Vorgehen und die Ergebnisse von McMenemy et al. referiert. Anschliessend (3.) wird die Datenbasis diskutiert sowie das Vorgehen, welches bei der vorliegenden Auswertung genutzt wurde, geschildert. Im Hauptkapitel (4.) dann werden die Ergebnisse dargestellt, immer orientiert am Aufbau des Textes von McMenemy et al. (2022).2 Zudem wird auf einige Punkte eingegangen, die im britischen Text nicht angesprochen werden. Zuletzt (5.) werden die Ergebnisse diskutiert.
2 Die britische Situation
Ausgangspunkt dieser Studie war, wie erwähnt, eine Publikation von McMenemy et al. (2022) zu der Frage, welchen Einfluss die Lockdowns 2020 auf die britischen Public Libraries hatten. Dabei nutzten die Autor*innen Daten, die sie per Freedom of Information Requests von jeder Gemeinde erfragten. Insgesamt erhielten sie so, nicht immer vollständig, Daten von 201 der 208 der von ihnen um diese Angaben angegangenen Gemeinden. Diese Daten waren auf das “Fiscal Year” bezogen, also jeweils auf die Zeit von April 2019 bis März 2020 sowie April 2020 bis März 2021. Sie werten die Daten auch nach Fiscal Years aus, was hier in diesem Text den Vergleich mit den Daten aus dem DACH-Raum, die pro vollständigem Jahr vorliegen, erschwert. Allerdings erfassen sie so gut die Auswirkung der Massnahmen zur Beherrschung der COVID-19 Pandemie, welche seit März 2020 ergriffen wurden.
Die Auswertung der Daten erfolgte mit deskriptiver Statistik. Die Ergebnisse sind wie folgt:
- Die Zahl der eingeschriebenen Nutzer*innen reduzierte sich von etwas mehr als 12 Millionen im Fiscal Year 2019/20 auf rund 5 Millionen in den zwölf Monate ab April 2020.
- Ebenso ging die Zahl der Ausleihen physischer Bücher massiv zurück. Dazu lagen von 179 Bibliotheken Daten vor. Bibliotheken mit einem Anstieg bei diesen Ausleihen gab es gar nicht. Verglichen mit 2019/20 hatten – um hier die häufigsten Ergebnisse zu nennen – 59 Bibliotheken einen Rückgang von 81-90%, 54 einen von 71-80%, 19 einen von 61-70% und 17 sogar einen von 91-96% zu verzeichnen.
- Hingegen stieg die Zahl der elektronischen “Ausleihen” oft merklich an. Wieder lagen dazu von 179 Bibliotheken vollständige Daten vor. Davon gab es in neun eine Reduktion, in 25 einen Anstieg von 0-100%, in 82 von 101-200% und in 24 einen von 201-300%. In anderen stieg die Zahl noch weiter, in 5 zu über 700%.
- Allerdings, dies ist ein wichtiger Punkt bei McMenemy et al. (2022), müssen diese Zahlen in ein Verhältnis gesetzt werden. Der Anstieg der “Ausleihe” elektronischer Medien hätte den Rückgang bei physischen Ausleihen bei weitem nicht ersetzt. McMenemy et al. (2022) zeigen das für ausgewählte Bibliotheken und berechnen dann, dass die beiden Formen der Ausleihen zusammengenommen in den 179 Bibliotheken mit vollständigen Daten 2018/2019 rund 165 Millionen Vorgänge darstellten, während es 2020/21 nur rund 47 Millionen Ausleihen dieser Art gab. Berechnet auf die aktiven Nutzer*innen entliehen diese 2018/19 im Durchschnitt je 13 physischen Büchern und 1 elektronisches Buch, 2020/21 statistisch ein halbes Buch und 2,6 E-Books.
- Mit dem Anstieg der “Ausleihe” von E-Books gingen zudem in den meisten Bibliotheken (133, das sind 85%) ein Anstieg der Lizenzkosten einher, während er in 21 (13%) sank und in 3 (2%) gleich blieb. (Bei insgesamt 157 Bibliotheken mit Daten für diese Frage.)
McMenemy et al. führen erstaunlicherweise keine Zahlen für Bibliotheksbesuche an. Diese sind ansonsten ein oft angeführter Wert, wenn es um die Arbeit von Bibliotheken geht und zudem einer, bei dem ein direkten Einfluss der Massnahmen zur Beherrschung der COVID-19 Pandemie, namentlich der Lockdowns, zu erwarten wäre.
3 Datenbasis und Methode
Die Frage, welche hier untersucht wird, ist, ob die Krise, die für Grossbritannien gezeigt wurde, sich auch in den Bibliotheken im DACH-Raum zeigte. Für die Schweiz und Deutschland liegen frei zugängliche Daten vor, welche genutzt werden können, um die Analysen von McMenemy et al. zu reproduzieren. Für Österreich werden diese Daten durch den Büchereiverband Österreich gesammelt und dann regelmässig in der verbandseigenen Zeitschrift “Büchereiperspektiven” in Zusammenfassungen publiziert (vgl. für die Daten zum Jahr 2020 Stieber 2021), aber nicht frei zugänglich veröffentlicht. Sie wurden für die hier vorliegende Auswertung auf Nachfrage aber problemlos zur Verfügung gestellt.
Für eine vollständige Übersicht zu Bibliotheken im DACH-Raum wären Daten aus dem Fürstentum Liechtenstein wünschenswert gewesen. Allerdings scheint in Liechtenstein keine vergleichbare Statistik geführt zu werden.
3.1 Die unterschiedlichen Bibliotheksstatistiken
Allerdings gibt es auch bei den drei vorliegenden Bibliotheksstatistiken einige Einschränkungen zu beachten. Die beim Hochschulbibliothekszentrum des Landes Nordrhein-Westfalen gesammelte und dann zur Verfügung gestellte deutsche Bibliotheksstatistik ist die umfangreichste und am Einfachsten zugängliche. (https://www.bibliotheksstatistik.de) Sie umfasst die Öffentlichen Bibliotheken Deutschlands sowie die Wissenschaftlichen Bibliotheken aus Deutschland und Österreich. Mit der sogenannten “variablen Auswertung” lassen sich Datensätze nach Kriterien wie den gewünschten Bibliothekstypen, Jahren oder einzelnen Variablen eingrenzen und dann in verschiedenen Formaten herunterladen. Bei einer Durchsicht der Daten fällt allerdings auf, dass eine ganze Anzahl von Bibliotheken für verschiedene Variablen keine Werte liefert oder aber eher Schätzwerte. Ersteres ist durch leere Datenfelder sichtbar. Letzteres dadurch, das teilweise über Jahre beispielsweise zum Punkt “Entleiher” (also aktive Nutzer*innen) immer die gleichen, auffällig “runden” Werte – wie 100, 500 oder 5000 – gemeldet werden. Die Daten der Statistik, und damit auch die hier vorgenommene Auswertung, sind also immer nur als eine Annäherung an die Realität zu verstehen.3
Die schweizerische Bibliotheksstatik wird vom Bundesamt für Statistik zusammengestellt. Die Entwicklung geschieht zusammen mit einer Kommission des Vereins bibliosuisse (https://bibliosuisse.ch/Bibliosuisse/Kommissionen/Statistik). Diese Daten stehen für verschiedene Bibliothekstypen (und bis 2019 auch für unterschiedliche Bibliotheksgrössen) und noch einmal in verschiedenen, zusammenfassenden Darstellung in Excel-Tabellen zur Verfügung. Es gab vor kurzem einen Bruch in diesen Daten. Für das Jahr 2020 und dann fortlaufend werden die Daten mit neuen Variablen (und Definitionen für diese Daten) erfasst. Zudem ist die Statistik seit 2020 eine Vollerhebung. Zuvor wurden nicht alle Bibliotheken erfasst. Es fehlten solche in Gemeinden mit unter 10.000 Einwohner*innen in bestimmten, mit der Zeit immer weniger werdenden, Kantonen. Wie in den deutschen Daten finden sich auch in diesen eine ganze Anzahl von Bibliotheken, die nicht für alle Variablen Angaben machen oder aber Schätzungen einzutragen scheinen anstatt konkreter Werte.
Eine wichtigere Einschränkung der schweizerischen Bibliotheksstatik im Bezug auf die hier vorliegende Studie ist, dass bis 2019 keine Daten für die Nutzung elektronischer Medien berichtet wurden. Laut Auskunft des Bundesamtes4 waren diese Daten nicht ausreichend genau definiert, um verwertbare Ergebnisse zu liefern. Deshalb können Vergleiche mit der Studie von McMenemy et al. (2022), die sich auf die Entwicklung der Ausleihe von E-Books beziehen, nicht mit den Daten der schweizerischen Statistik durchgeführt werden.
Die Daten der Österreichischen Bibliotheksstatistik werden, wie gesagt, jährlich vom Büchereiverband Österreich gesammelt und auch regelmässig ausgewertet. Für die hier vorgelegte Auswertung wurden ausgewählte Daten zur Verfügung gestellt. Wie auch bei den beiden anderen Bibliotheksstatistiken sind diese mit Vorsicht zu bewerten. Nicht alle Büchereien meldeten immer alle Werte, einige offenbar auch Schätzwerte. Lizenzkosten werden nicht gesondert abgefragt, insoweit konnten Vergleiche mit Bezug auf diese mit den Daten aus Österreich nicht durchgeführt werden. Auch meldeten nur sehr wenige Bibliotheken Daten zur “Ausleihe” von E-Books, was offenbar damit zu tun hat, dass elektronische Medien in den meisten dieser Bibliotheken durch zentrale Lizenzen für die Onleihe, beispielsweise für ganze Bundesländer, angeboten werden. Deshalb wird in diesem Text auch auf Vergleiche, die sich darauf beziehen, verzichtet.5
Für diese Statistiken erfassen Bibliotheken selbstständig ihre jeweiligen Daten und melden sie dann weiter. Hierfür gibt es jeweils elektronische Portale sowie Definitionen für die abgefragten Variablen. Grundsätzlich kann man wohl davon ausgehen, dass Bibliotheken hier versuchen, ehrliche Antworten zu liefern. Aber überprüft werden kann dies nicht. Die Bibliotheksstatistiken und damit auch Auswertungen wie die hier präsentierte, sind abhängig davon, dass diesen Daten vertraut wird. Zudem wurde für diese Auswertung, soweit es einfach möglich war, versucht die Bibliotheken nicht mitzubetrachten, die gleichzeitig mehreren Bibliothekstypen angehören, also zum Beispiel wie die Kantonsbibliothek Baselland gleichzeitig Kantonsbibliothek und Stadtbibliothek für Liestal sind. In solchen Fällen ist es schwierig zu bestimmen, welche Bibliotheksnutzungen sich auf welchen Bereich der jeweiligen Bibliotheken bezogen.
Weiterhin ist zu beachten, dass sich die Daten dieser Statistiken jeweils auf den Zeitraum vom 01. Januar bis zum 31. Dezember beziehen, nicht wie im britischen Fall auf Fiscal Years. Insoweit sind alle Vergleiche, die hier weiter unten dargestellt werden, immer nur Annäherungen.
3.2 Methode und Daten
Um die Studie von McMenemy et al. (2022) soweit wie möglich mit den Daten aus dem DACH-Raum reproduzieren zu können, wurde eine Auswertung mithilfe der freien Statistiksprache R vorgenommen.
In einem ersten Schritt wurden die Daten eingelesen und in das jeweils gleiche Datenschema transformiert.6 Am Ende dieses Prozesses stand dann für die drei Länder je eine Datei mit den für diese Studie benötigten Daten. In diesen fanden sich Angaben über 582 schweizerische, 1216 österreichische und 7045 deutsche Öffentliche Bibliotheken.
Anschliessend wurden die Fragen, welche McMenemy et al. (2022) an die britischen Daten gestellt hatten, auch an die aus dem DACH-Raum gestellt. Soweit möglich, wurde reproduziert, was in der britischen Studie getan wurde. Anschliessend wurden, wieder soweit es möglich war, die Ergebnisse in Tabellen und Säulendiagrammen dargestellt sowie als .csv-Datei gesichert. Die Darstellung der Ergebnisse im nächsten Kapitel folgt der Struktur der Fragen, wie sie bei McMenemy et al. (2022) gestellt werden und greift auf einiger dieser erstellten Graphiken zurück. Die vollständigen Ergebnisse, Tabellen, Diagramme und verwendeten Skripte können im Datensatz, der auf Zenodo zur Verfügung steht (Schuldt 2022), nachvollzogen oder auch für weitere Analysen benutzt werden.
Um tatsächliche Entwicklungen darzustellen, wurden für die Auswertung hier jeweils nur “vollständige Fälle” verwendet, also Daten von Bibliotheken, welche solche jeweils für alle drei Jahre angegeben hatten. Bibliotheken, welche beispielsweise erstmals für das Jahr 2020 Daten für die schweizerische Statistik lieferten, werden so nicht beachtet, genauso wie solche Bibliotheken, die aus unterschiedlichen Gründen in einem oder mehr Jahren keine Angaben machen konnten. Deshalb unterscheiden sich die hier berichteten Werte auch von denen, die von schweizerischen Bundesamt für Statistik in den Zusammenfassungen der aktuellen Daten7 genannt werden.
Da für die Statistiken aus dem DACH-Raum auch Angaben für die Besuche von Bibliotheken vorlagen und zu vermuten ist, dass sich hier ein Effekt der Massnahmen zur Einschränkung der COVID-19 Pandemie zeigt, wurden diese auch miteinander verglichen, obgleich sie, wie oben schon gesagt, bei McMenemy et al. (2022) nicht vorkommen.
4 Ergebnisse
In diesem Kapitel werden nun die Ergebnisse der Auswertung dargestellt. Dabei handelt es sich jeweils um zusammenfassende Repräsentationen. Bei dieser Darstellung wurden, wenn nötig, Extremwerte ignoriert, die zumeist auf spezifische Umstände vor Ort – beispielsweise Neueröffnungen von Bibliothek – oder eventuell auch Datenfehler zurückzuführen sind. Die vollständigen Werte sind jeweils im schon erwähnten Datensatz (Schuldt 2022) einzusehen. Dies verändert nicht die allgemeinen, hier dargestellten Tendenzen.
4.1 Veränderung der Zahl der aktiven Nutzer*innen
Wie weiter oben dargestellt, stellten McMenemy et al. (2022) im Jahr 2020/21 einen Rückgang der Zahl der aktiven Nutzer*innen (also solcher, welche innerhalb des Fiscal Year mindestens einmal eine physische oder elektronische Ausleihe getätigt hatten) um mehr als die Hälfte fest. Dadurch, dass sie in die Betrachtung auch die Entwicklung von 2018/2019 zu 2019/2020 – wo es einen Rückgang von rund einer halben Millionen gab – einbezogen, konnten Sie zeigen, dass dieser Rückgang zumindest zu einem grossen Teil auf Lockdowns und andere Massnahmen zurückzuführen ist.
Das Bild ist ein sehr anderes, wenn man die Zahlen aus dem DACH-Raum dagegenstellt, wie dies in Tabelle 1 geschieht.
Land | Deutschland | Österreich | Schweiz |
---|---|---|---|
2018 | 7.076.280 | 798.109 | 890.919 |
2019 | 7.141.002 | 813.074 | 835.941 |
2020 | 6.307.585 | 755.220 | 897.591 |
Für Deutschland fällt auf, dass 2020 die Zahl der aktiven Nutzer*innen von 7,1 Millionen zu 6,3 Millionen zurückging, während sie im Vorjahr leicht gestiegen war.8 Obwohl auch dieser Rückgang nicht ignoriert werden kann, ist es doch ein sehr viel geringer als er in Grossbritannien festgestellt wurde. Diese Differenz ist wohl auch nicht durch die zeitlich verschobenen “Jahre” – und damit zwei Monate ohne, zehn Monate mit Pandemie gegenüber zwölf Monaten Pandemie in den britischen Daten – alleine zu erklären. Während also für Grossbritannien tatsächlich von einem Einbruch der aktive Nutzer*innen gesprochen werden kann, scheinen für Deutschland eher Bilder wie “Durststrecke” oder “herausfordernde Situation” angemessen.
Dies gilt auch für Österreich. Hier gab es einen Rückgang von rund 60.000 aktiven Nutzer*innen, was bezogen auf die rund 750.000 Nutzer*innen 2020 eine relevante Zahl ist, aber doch keine, die auf eine grundlegende Krise hindeutet.
Für die Schweiz zeigen die Zahlen, wohl entgegen aller Erwartungen, sogar eine andere Entwicklung. Nachdem die Zahl 2019 zurückging, stieg sie offenbar 2020 wieder auf einen mit 2018 vergleichbaren Wert. Es drängt sich auf, nach anderen Gründen als einem tatsächlichen Anstieg zu suchen, um diese Zahlen zu erklären. Aber diese sind schwer zu finden. Bei der Umstellung der Bibliotheksstatistik für die Daten ab 2020 wurden zwar Werte neu definiert, die für die aktive Nutzung wurden aber nicht wesentlich verändert: Weiterhin gilt, wie auch in den anderen beiden Ländern, diese für ein*e aktive Nutzer*in, welche*r in den letzten 12 Monaten die Ausleihe mindestens eines beliebigen Mediums getätigt hat. (Bundesamt für Statistik 2017, Bundesamt für Statistik 2022) Ebenso hat sich Erweiterung der Statistik zur Vollerhebung nicht auf die oben präsentierten Zahlen ausgewirkt, da – wie schon dargestellt – hier nur die Einrichtungen betrachtet werden, welche auch für alle drei Jahre Werte lieferten.
Vielmehr sind diese Werte kongruent mit den anderen Ergebnissen, die im Folgenden präsentiert werden: Grundsätzlich, in Anbetracht der Herausforderungen, die sich durch die COVID-19 Pandemie stellten und im Vergleich zu den Ergebnissen aus Grossbritannien gab es für die Bibliotheken in den drei Ländern relativ positive Entwicklungen. Es scheint keine eigentliche Krise gegeben zu haben, sondern eher eine herausfordernde Zeit, die von den Bibliotheken recht gut gemeistert wurden. Für die hier ausgewerteten Daten zeigt sich sowohl bei den aktiven Nutzer*innen als auch dann bei anderen Themen, das diese Herausforderungen sich am meisten auf Öffentliche Bibliotheken in Deutschland auswirkten, dann etwas weniger auf die in Österreich und das die Bibliotheken in der Schweiz während der Pandemie teilweise sogar positive Entwicklungen verzeichnen konnten.
4.2 Veränderung der Ausleihe physischer Bücher
In den folgenden Abbildungen (Abbildung 1, 2 und 3) werden die Veränderungen in der Ausleihe physischer Bücher von 2019 zu 2020 dargestellt. In Anlehnung an die Darstellung, wie sie bei McMenemy et al. (2020) gewählt wurde, wird hier jeweils die Anzahl der Bibliotheken, bei denen sich eine Veränderung in einem bestimmten Bereich von Prozentpunkten ergab, berichtet.
Ein wichtiger Unterschied zu den britischen Daten ist schon am gewählten Begriff “Veränderung” sichtbar. Während in Grossbritannien alle Bibliotheken eine Reduktion dieser Ausleihen berichteten, wenn auch in unterschiedlichem Masse, trifft dies für Deutschland, Österreich und die Schweiz nicht zu. Hier fanden sich sehr wohl immer auch Bibliotheken, die im Jahr 2020 mehr Bücher entlehnten als noch 2019.
Die Darstellung ist so zu interpretieren, dass zum Beispiel knapp 4400 Öffentliche Bibliotheken in Deutschland (von rund 5900, für die für alle beide Jahre Daten vorliegen) im Jahr 2020 bis zu 50% weniger physische Ausleihen verzeichneten als 2019. Dies ist der grösste Teil der Bibliotheken. Aber gleichzeitig ist dies auffällig weniger als in Grossbritannien, wo die meisten Bibliotheken zwischen 61% und 96% Rückgang physischer Ausleihen berichten mussten und keine einen Anstieg berichtete. Bemerkenswert ist dann im Vergleich auch, dass etwas mehr als 800 deutsche Bibliotheken 2020 bis zu 50% mehr physische Ausleihen, rund 40 sogar 50%-100% und einige Bibliotheken sogar noch grössere Steigerungen meldeten.
Wie im Abschnitt zur Darstellung der Veränderung der Zahl aktiver Nutzer*innen gesagt, stellen sich die Daten für Österreich sogar etwas besser dar, als die aus Deutschland, und die für die Schweiz noch ein wenig positiver. So auch hier. In Österreich berichteten die meisten Bibliotheken von einem im Vergleich zu den deutschen relativ geringen Rückgang der Ausleihen. In der Schweiz konnten mehr Bibliotheken über eine Steigerung der Ausleihe berichten als von einer Reduktion. Aber auch die Reduktionen hielten sich, mit Ausnahmen, in Grenzen. Der Grossteil der Bibliotheken findet sich in der Bandbreite von -20 bis 40% Veränderung. Anders interpretiert kann man sagen, dass etwas mehr als die Hälfte der allgemein öffentlichen Bibliotheken in der Schweiz 2020 die Ausleihe von Büchern sogar leicht steigern konnten.
4.3 Veränderung der Nutzung von E-Books
Für die Veränderung der Nutzung von E-Books – hier im Text als “Ausleihe” in Anführungsstrichen bezeichnet, da es bekanntlich in Realität um das lizenzierte Zurverfügungstellen von Zugängen geht – gibt es für die drei hier betrachteten Jahre nur Daten für Deutschland.9 Auch das ist noch einmal einzugrenzen: Viele Öffentliche Bibliotheken lieferten keine kontinuierlichen Daten, was wohl auch darauf zurückzuführen ist, dass ein grosser Teil keine E-Books anbietet. Nicht klar ist, ob Bibliotheken stattdessen über regionale Konsortien für ihre Nutzer*innen Zugang zu E-Books schaffen, die betreffenden Werte für ihre Bibliothek dann aber (entgegen der Definition im Codebuch) nicht in der Statistik angeben.
Insoweit sind die hier dargestellten Ergebnisse mit Vorsicht zu geniessen. Sie geben unter Umständen nur eine Tendenz an. Diese Tendenz aber lässt sich mit den Ergebnissen aus Grossbritannien vergleichen. Die Darstellung dazu findet sich in Abbildung 4 (sowie die konkreten Daten im Datensatz Schuldt (2022)).
4.3.1 Steigerung der E-Book Ausleihen
Die Tendenz ist ersichtlich: Der grösste Teil der Bibliotheken berichtete von einer Steigerung von bis zu hundert Prozent an solchen “Ausleihen”. Gleichzeitig gab es aber auch eine bemerkbare Minderheit von Bibliotheken, deren Daten eine Reduktion dokumentieren. Ein tieferer Blick in die Daten zeigt, dass davon einige einen Rückgang von 100% erwähnen, was wohl darauf schliessen lässt, dass hier das Angebot von E-Books grundsätzlich eingestellt wurde.10 Aber die meisten dieser Bibliotheken mit einem Rückgang dieser “Ausleihen” berichten von Reduktionen im einstelligen oder niedrigen zweistelligen Bereich.
Auch in den britischen Daten zeigte sich in einigen Bibliotheken eine Reduktion solcher “Ausleihen”. Die meisten britischem Bibliotheken berichteten aber über eine Steigerung von 101-200%, also alleine orientiert an den Zahlenwerten leicht mehr als in Deutschland. Allerdings, wie weiter oben besprochen, bei einem merklichen Rückgang der aktiven Nutzer*innen. Bei aller Vorsicht, die hierbei geboten ist, lässt sich also interpretieren, dass es für die “Ausleihe” elektronischer Medien in Grossbritannien ein höheres Interesse gab als in Deutschland.
4.3.2 Zusammenhang der E-Book Ausleihen in den einzelnen Jahren
An einer späteren Stelle ihres Textes überprüfen McMenemy et al. (2022) zudem, ob es einen Zusammenhang zwischen den “Ausleihen” von E-Books der drei Jahre gibt, also ob die des Jahres 2019/20 mit denen des fiscal year 2018/19 zusammenhängen und die von 2021/20 mit denen von 2019/20. Die Vermutung dahinter ist, dass sich bei der Veränderung eventuell Tendenzen zeigen, die schon vor der Pandemie wirkten, aber durch diese noch verstärkt wurden. Dazu verwenden sie einen statistischen Test, die Spearman-Korrelation, welche den Zusammenhang zwischen zwei Variablen testet und dann einen Wert von -1 bis +1 ausgibt. Hierbei bedeutet -1 einen perfekt negativen Zusammenhang zwischen den beiden Variablen, also Werte die sich auf die gleiche Weise in umgekehrte Richtung bewegen (also Wachsen oder Reduzieren), und +1 einen perfekt positiven Zusammenhang, also Werte die sich auf die gleiche Weise in die gleiche Richtung bewegen. 0 würden keinen errechenbare Zusammenhang darstellen.
Für die Jahre 2018/19 zu 2019/20 beträgt dieser Zusammenhang für ihre britischen Daten +0.93. Für die Jahre 2019/20 zu 2020/21 errechnen sie einen Wert von +0.67. Sie interpretieren dieses Ergebnis dahin, dass das Ausleihverhalten bei E-Books vor der Pandemie stark das Ausleihverhalten während der Pandemie prädeterminierte. Dort, wo schon viele E-Books “ausgeliehen” wurden, stieg die Zahl 2020/21 stärker als dort, wo das vorher nicht der Fall war. Es gab also eher eine Weiterentwicklung des Mediennutzungsverhaltens (oder zumindest des “Ausleihverhaltens” der Nutzer*innen) und weniger einen Wandel.
Übernimmt man diese, einigermassen gewagte, Interpretation, dann gilt dies in Deutschland noch stärker: Hier ist der Wert für den Zusammenhang der E-Book-Ausleihen von 2018 zu 2019 sogar +0.96 und von 2019 zu 2020 sogar +0.98. (Dies gilt aber, auch wenn dies bei McMenemy et al. nicht getestet wird, noch mehr für die Ausleihe physischer Medien: +0.97 respektive +0.99.)
4.4 Veränderung der Ausleihe (physische Bücher und E-Books zusammen)
In einer etwas umständlichen Rechnung überprüfen McMenemy et al., ob der Rückgang der physischen Ausleihen durch den Anstieg von “elektronischen Ausleihen” ausgeglichen wurde. Dies ist vor allem vor dem Hintergrund des massiven Einbruchs von ersteren zu sehen. Einen solchen gab es aber, wie schon dargestellt, in Deutschland so nicht. Der Vollständigkeit halber wurde dieser Rechnung hier aber auch für die deutschen Daten durchgeführt (für Österreich und die Schweiz ist dies auch hier aufgrund fehlender Daten nicht möglich). Das Ergebnis ist in Abbildung 5 zu sehen.
Für Grossbritannien wurde geschlossen, dass die elektronischen “Ausleihen” die physischen nicht ersetzen konnten. Für Deutschland hingegen zeigt sich ein anderes Bild. An sich war der Rückgang der physischen Ausleihen schon nicht so dramatisch, wie in Grossbritannien. Zudem gab es auch Bibliotheken, welche mehr physische Bücher verliehen. Nimmt man – wie bei McMenemy et al. getan – die physischen Ausleihen von 2018 und vergleicht sie mit den Zahlen für beide Formen der “Ausleihe” von 2020, so zeigt sich, dass es auch in Deutschland Bibliotheken gab, die 2020 insgesamt weniger verliehen. Aber doch weit mehr Bibliotheken, die eine kleine Steigerung von bis zu 50% vorweisen konnten. Die elektronische Ausleihe scheint hier also tatsächlich teilweise einen eventuellen Rückgang physischer Medien aufgefangen zu haben, wenn auch im kleinen Rahmen.11
4.5 Veränderung der Lizenzkosten
McMenemy et al. interessierten sich auch für die Veränderungen bei den Lizenzkosten, was relevant für die Frage ist, ob es für Bibliotheken überhaupt effizient ist, Lizenzen für elektronische Medien abzuschliessen, vor allem wenn diese, wie im britischen Kontext, den Rückgang physischer Ausleihen nicht ausgleichen. Dabei vergleichen sie die Kosten von 2018/19 und 2020/21.
Für die Lizenzkosten liegen wieder auch Daten für die Schweiz vor, so dass sie für diese Frage wieder einbezogen werden kann. Die Differenz zwischen den Lizenzkosten 2018 und 2020 der Bibliotheken, die dazu Angaben machten, ist in Abbildung 6 und 7 dargestellt.
In der Tendenz lässt sich sehen, dass Bibliotheken 2020 zumeist mehr Geld für Lizenzen ausgaben. Allerdings ist die Steigerung, die in beiden Ländern für die meisten Bibliotheken bis zu 50% beträgt, geringer als in Grossbritannien, wo sie sich vor allem über die Werte 0%-50% (27 Bibliotheken), 50%-100% (28 Bibliotheken) und 100%-150% (29 Bibliotheken) streckte. Auffällig ist auch, dass die Zahl der Bibliotheken, welche einen Rückgang meldeten, nicht klein ist. Diese gab es auch in Grossbritannien, aber nicht in diesem grossen Masse. Zumal, wie schon dargestellt, die Bibliotheken in der Schweiz und Deutschland bezogen auf die Ausleihzahlen, mehr von den abgeschlossenen Lizenzierungen profitierten.
4.6 Lizenzkosten pro Nutzer*in
Ein weiterer Wert, den McMenemy et al. angeben, sind die Lizenzkosten pro Nutzer*in. Dies kann helfen zu verstehen, ob die Bibliotheken Geld effektiv für Lizenzen ausgeben. Im Idealfall sollte dieser Wert mit der Zeit sinken, wenn Bibliotheken mit zunehmender Erfahrung eher die Lizenzen wählen, welche von Ihren Nutzer*innen auch benötigt werden.12 Für Grossbritannien stieg der Wert allerdings, von £0.51 im Fiscal Year 2018/19 auf £0.89 für 2020/21.
Direkt vergleichen lassen sich die Wert mit denen in Deutschland und der Schweiz aufgrund der unterschiedlichen Währungen und Preisniveaus nicht. Sichtbar ist nur die jeweilige Tendenz. Diese ist in Tabelle 2 dargestellt. Diese sind gegenläufig: In Deutschland offenbar steigend, in der Schweiz steigend, aber im ersten Jahr der Pandemie massiv sinkend.
Land | 2018 | 2019 | 2020 |
---|---|---|---|
Schweiz (CHF) | 3.02 | 3.75 | 2.95 |
Deutschland (€) | 1.81 | 1.91 | 2.47 |
4.7 Durchschnitt der Ausleihen, 2020
Zuletzt interessieren sich McMenemy et al. für die Frage, wie sich die Ausleihe pro Nutzer*in entwickelt hat. Diese Angaben unterstützen ihre Interpretation des krisenhaften Rückgangs von physischen Ausleihen, die nicht durch die “Ausleihe” von E-Books ausgeglichen wurde. 2018/19 hätten Nutzer*innen im Durchschnitt 13 physische Bücher und 1 E-Books entlehnt, 2020/21 wären es rund 6,5 Bücher und 2,6 E-Books.
Die Zahlen für Deutschland sind andere und werden in Tabelle 3 dargestellt. (Zahlen für die Schweiz liegen, wie dargestellt, nicht für alle drei Jahre vor und für Österreich nur für eine sehr kleine Anzahl von Bibliotheken.) Die Zahlen sind schon sowohl für 2018 als auch 2019 für beide Medienformen weiter höher. Deutsche Bibliotheken scheinen also grundsätzlich mit der Ausleihe an diejenigen Personen, welche sie nutzen, weit erfolgreicher zu sein, als in Grossbritannien. Gleichzeitig geht die Entwicklung 2020 zwar in der gleichen Richtung, wie in Grossbritannien – also weniger physische und mehr elektronische Ausleihen -, aber bei weitem nicht so stark.
Ausleihe / Nutzer*in | 2018 | 2019 | 2020 |
---|---|---|---|
physische Ausleihen | 26.5 | 26.3 | 24.5 |
elektronische Ausleihen | 4 | 4.6 | 6.5 |
4.8 Veränderung der Besuche
Wie weiter oben gesagt, überprüfen McMenemy et al. nicht die Entwicklung der konkreten Bibliotheksbesuche. Gründe dafür geben sie nicht an. Eventuell gab es dafür einfach nicht ausreichende Daten. Für den DACH-Raum liegen diese allerdings vor und lassen sich analog zur ersten Frage nach der Entwicklung der Zahl der aktiven Nutzer*innen darstellen. Dies geschieht in Abbildung 8.
Bei diesen Zahlen ist dann tatsächlich ein massiver Einbruch zu verzeichnen, der mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die COVID-19 Pandemie zurückzuführen ist. Zu sehen ist in allen drei Ländern, dass die Besuche von 2018 zu 2019 etwas gestiegen sind, aber 2020 massiv zurückgingen. Allerdings zeigt sich auch hier wieder, dass die schweizerischen Bibliotheken die etwas besseren Zahlen erreichten. Hier gingen die Besuche von rund 10,3 Millionen auf rund 8,1 Millionen, als um etwas mehr als 2 Millionen, zurück. In Deutschland mit rund zehnmal mehr Einwohner*innen als in der Schweiz betrug der Rückgang rund 45 Millionen, von ungefähr 115 Millionen zu rund 70 Millionen. Die Büchereien in Österreich erreichten – bei etwas mehr Einwohner*innen als in den Schweiz – mit einem Rückgang um rund 3 Millionen, also auch in diesem Fall einen Wert zwischen diesen beiden Ländern.
Sichtbar ist aber, dass es offenbar vor allem die Besuche in Bibliotheken waren – im Gegensatz zu den Ausleihzahlen oder Kosten – welche tatsächlich von der Pandemie und den Massnahmen zu ihrer Einschränkung betroffen waren.13
5 Diskussion
Was hier bei der Darstellung der Ergebnisse sichtbar wurde, ist, dass die Situation für Öffentliche Bibliotheken zumindest im ersten Jahr der Pandemie im ganzen DACH-Raum nicht so krisenhaft war, wie für Public Libraries in Grossbritannien. Stattdessen zeigten sie sich als relativ gut aufgestellte Einrichtungen, gerade in einer Zeit, die von anderen Kultur- und Bildungseinrichtungen sowie anderen Gebieten der Gesellschaft als von grossen Problemen und Veränderungen geprägt wahrgenommen wurden. In Teilen sogar als Einrichtungen, die ihre Ergebnisse steigerten.
Die Gründe dafür sind aus den Daten nicht herauszulesen. Aber man könnte vermuten, dass die Pandemie nicht nur eine Krise darstellte. Eventuell war sie auch eine Zeit, in der sich mehr Menschen als zuvor dem Medienkonsum zuwandten – vielleicht für die Freizeit, vielleicht auch für Bildungsaktivitäten, die sie in Angriff nahmen.
Was sichtbar wurde und für Bibliotheken in Zukunft relevant sein sollte, war der Fakt, dass die relativ konstanten Ausleihzahlen auch erreicht wurden, obgleich die Besuche in den Bibliotheken massiv zurückgingen. Dies steht entgegen der im Bibliothekswesen verbreiteten Vorstellung, dass der Raum Bibliothek eine immer grössere Bedeutung im Vergleich zu den Medien einnehmen würde. (Kaltenbrunner 2021, Peterson 2021) Selbstverständlich kann sich bei dieser Entkoppelung auch ein Effekt der Pandemie zeigen. Aber eventuell ist es gleichzeitig ein Hinweis darauf, dass es sich bei den Personen, die vor allem Medien aus Bibliotheken nutzen und den Personen, die vor allem den Raum Bibliothek nutzen, um zwei verschiedene Gruppen handelt. Dies wäre weiter zu untersuchen. Wenn dies aber stimmt, dann sollte die Arbeit des Bestandsmanagements nicht in den Hintergrund gerückt, sondern mindestens so prominent fachlich diskutiert werden, wie es mit Fragen zum Raum der Bibliothek geschieht.
Der Unterschied der Daten aus den drei deutschsprachigen Ländern zu den Daten aus Grossbritannien ist erstaunlich und wohl vor allem durch die unterschiedlichen Gesellschaften beziehungsweise Kulturen zu erklären. Seit Jahren wird nicht selten von einer anhaltenden Krise des britischen Bibliothekswesens geschrieben, die vor allem politische Gründe hätte. (Touitou 2020, Güntzel 2019) Diese scheint sich in den Daten zu bestätigen.
Interessant wäre es, in weiteren Studien die hier präsentierten Daten mit denen aus den Bibliotheksstatistiken anderer Länder zu vergleichen. Reizvoll wären Daten aus Ländern mit ähnlichen Kulturen wie Grossbritannien, also vor allem den anderen mehrheitlich englischsprachigen im globalen Norden. Aber auch solche mit einer sowohl vom DACH-Raum als auch Grossbritannien unterschiedlichen Bibliothekskultur wie beispielsweise Frankreich, Spanien oder südosteuropäische Länder würden erkenntnisfördernde Vergleiche ermöglichen. Nicht nur würde so klarer werden, ob die Entwicklung in Grossbritannien oder die im DACH-Raum gegebenenfalls Besonderheiten darstellen. Es liesse sich so auch mit hoher Wahrscheinlichkeit etwas über die Auswirkungen verschiedener Kulturen und verschiedener Ansätze der Pandemiebekämpfung lernen.
Dem entgegen steht allerdings, dass Bibliotheksstatistiken offenbar in jedem Land anders organisiert, gesammelt oder auch zur Verfügung gestellt werden. Die Unterschiede im DACH-Raum wurden schon weiter oben geschildert. Diese Situation wird nur komplexer, je mehr Länder in Vergleiche einbezogen werden sollen. Zudem sind die Bibliotheksstatistiken und ihre Begleitdokumente – also vor allem relevant die jeweiligen Definitionen von Variablen – wohl jeweils in einer Landessprache gehalten. Eine Analyse würde also mindestens die passive Kenntnis einer grossen Zahl von Sprachen nötig machen.
Und nicht zuletzt können solche Auswertung, wie die hier vorgestellte, auch für weitere Zeiträume unternommen werden. Es wurde sich hier auf die Jahr 2018 bis 2020 beschränkt, weil dies bei McMenemy et al. (2022) so angelegt war. Aber die Daten für das Jahr 2021 wurden in Deutschland zum Beispiel schon veröffentlicht, in Österreich und der Schweiz wird das in absehbarer Zeit passieren. Zudem sind weiter zurückgehende Datenreihen vorhanden.
6 Fazit
Die hier vorgestellte Auswertung von Daten der schweizerischen, österreichischen und deutschen Bibliotheksstatistiken für die Jahr 2018 bis 2020 zeigte, dass Öffentlichen Bibliotheken durch die COVID-19 Pandemie nicht wirklich in eine Krise gerieten. Vor allem im Vergleich zu den Public Libraries in Grossbritannien sind sie offenbar gut aufgestellt und von ihren Nutzer*innen akzeptiert. Dies sollte Teil des Selbstbildes von Bibliotheken werden – nämlich, das sie auch in Krisen recht stabil arbeiten.
Die Auswertung wurde unter anderem mit dem Ziel unternommen, um die Daten der Bibliotheksstatik – die, wie dargestellt, in der Schweiz und Deutschland einfach zugänglich sind und aktuell gehalten werden und für Österreich umstandslos auf Nachfrage zur Verfügung gestellt werden – einmal in einem grösseren Zusammenhang zu nutzen. Eine Hoffnung ist, dass dies auch andere anregt, diese Daten öfter und für mehr Forschungsfragen zu nutzen.
Literatur
Büchereiverband Österreich 2022. Statistik der Öffentlichen Büchereien Österreichs 2021. Wien: Büchereiverband Österreich.
Bundesamt für Statistik BFS 2022. Definitionen der Variablen der Schweizerischen Bibliothekenstatistik: Grunddaten und Basisvariablen. Neuchâtel: Bundesamt für Statistik BFS. https://dam-api.bfs.admin.ch/hub/api/dam/assets/21944622/master.
Bundesamt für Statistik BFS 2017. Definitionen der Variablen der Schweizerischen Bibliothekenstatistik: Kurzfragebogen und Zusatzfragen. Neuchâtel: Bundesamt für Statistik BFS. https://dam-api.bfs.admin.ch/hub/api/dam/assets/2121223/master.
Güntzel, Lennart 2019. Endstation Fitnessstudio? Die Situation der britischen Bibliotheken im Nachhall der Finanzkrise. 027.7 Zeitschrift für Bibliothekskultur 6, 1, 15-24. https://doi.org/10.12685/027.7-6-1-183.
Kaltenbrunner, Robert 2021. Gebautes Gemeinwohl?: Über die unterschätzten Analogien von Bibliothek und öffentlichem Raum. Bibliothek Forschung und Praxis 45, 1, 125–134. https://doi.org/10.1515/bfp-2020-0114.
McMenemy, David, Robinson, Elaine & Ruthven, Ian 2022. The Impact of COVID-19 Lockdowns on Public Libraries in the UK: Findings from a National Study. Public Library Quarterly. https://doi.org/10.1080/01616846.2022.2058860.
Peterson, Melike 2021. Die Stadt als Wohnzimmer: Ein Projekt zu Bibliotheken und Begegnungen im öffentlichen Raum. BuB. Forum Bibliothek und Information 73, 1, 4–5. https://b-u-b.de/fileadmin/archiv/imports/pdf_files/2021/bub_2021_01_004_005.pdf
Schuldt, Karsten 2022. Reproduktion McMenemy et al. 2022 für den DACH-Raum. https://doi.org/10.5281/zenodo.7223516.
Stieber, Martin 2021. Statistik öffentlicher Bibliotheken: Österreichs Bibliotheken in der Corona Pandemie. Büchereiperspektiven 1, 50–53.
Touitou, Cécile (Hg.) 2020. Bibliothèques publiques britanniques contemporaines: autopsie des années de crise. Villeurbanne: Presses de l’enssib. https://doi.org/10.4000/books.pressesenssib.11527.
Der den britischen Public Libraries vergleichbare Bibliothekstyp wird in den Ländern des DACH-Raumes mit unterschiedlichen Namen bezeichnet (und auch dort nicht durchgängig gleich): In Deutschland als Öffentliche Bibliothek, in der Schweiz und Liechtenstein als allgemein öffentliche Bibliothek und in Österreich teilweise als Bücherei und teilweise als öffentliche Bibliothek. In diesem Text wird jeweils der Bezeichnung des Landes gefolgt, über das gesprochen wird.↩
Die Darstellung der Ergebnisse folgt, um eine möglichst grosse Vergleichbarkeit herzustellen, denen von McMenemy et al. (2022). Insbesondere wurde die Aufteilung der Skalen übernommen, bei der von McMenemy et al. oft nicht die jeweils einfachsten Varianten gewählt wurden. Zudem sind die Ergebnisse für die drei Länder teilweise sehr unterschiedlich. Deswegen wurden teilweise Darstellungen gewählt, nicht unbedingt die jeweils intuitivste Variante darstellen. Es ist oft ein Kompromiss zwischen dem Wunsch, sich am Originaltext zu orientieren und der einen übersichtlichen Vergleich zwischen den drei hier untersuchten Ländern zu ermöglichen. Es sei aber darauf verwiesen, dass die gesamten Daten der Auswertung auch in einem frei zugänglichen Datensatz vorliegen (Schuldt 2022) und beispielsweise für andere Darstellungen nachgenutzt werden können.↩
Das bedeutet auch, dass jegliche statistische Auswertung dieser Daten mit Vorsicht interpretiert werden muss. Dies gilt auch für diesen Artikel. Statistische Programme liefern immer auf der Basis der vorhandenen Daten klar berechnete Werte zurück, die eventuell einen zu eindeutigen Eindruck machen, weil sie jeweils auf viele Stellen nach dem Komma dargestellt werden können. Wenn die Daten, die für diese Berechnungen genutzt werden, aber eher Tendenzen darstellen, dann können auch die Ergebnisse der statistischen Berechnungen nur Tendenzen sein.↩
Per E-Mail von Laurene Stauffer (Bundesamt für Statistik) am 24.05.2022 als Antwort zur Frage, ob es Daten zur Ausleihe von E-Books aus allgemein öffentlichen Bibliotheken 2018-2019 gibt.↩
Der Vollständigkeit halber wurden sie dennoch durchgeführt und sind im Datensatz (Schuldt 2022) zu diesem Artikel enthalten.↩
Eine “variable Auswertung” der Deutschen Bibliotheksstatistik mit den in dieser Studie interessanten Variablen und Daten für die Jahre 2018-2020 für alle Öffentlichen Bibliotheken, die betreffenden Datenblätter der schweizerischen Bibliotheksstatistik sowie die schon im gewünschten Format zur Verfügung gestellten Daten der Österreichischen Bibliotheksstatistik. Die Daten für die Schweiz wurden aus den verschiedenen Dateien (eine für 2020 und je eine für allgemein öffentliche Bibliotheken in Gemeinden mit mehr oder weniger als 10.000 Einwohner*innen für die Jahre 2011 bis 2019) zusammengeführt. Dies war einfach möglich, weil alle Bibliotheken eine eindeutige ID besitzen, die sich auch beim Bruch zwischen 2019 und 2020 nicht veränderte.↩
https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kataloge-datenbanken/tabellen.html?dyn\_inquiry=115.↩
Bibliotheken im DACH-Raum – nicht nur Öffentliche – öffneten mit Beginn der Pandemie oft auch die Möglichkeit für neue Nutzer*innen, sich elektronisch anzumelden. Ob dies in Grossbritannien auch stattfand, wird bei McMenemy et al. (2022) nicht erwähnt. Es könnte also sein, dass dies den Bibliotheken im DACH-Raum gegenüber jenen in Grossbritannien einen “Vorteil” im Bezug auf die hier präsentierten Zahl gab. Wenn, dann wird dies allerdings ein kleiner gewesen sein, der sich für alle vier hier relevanten Länder nicht mehr genau bestimmen lassen wird.↩
Für Österreich gab es nur 21 Büchereien, welche Daten zu dieser Frage und für beide Jahre zur Verfügung stellten. Diese sind, ausgewertet, etwas besser als in Deutschland, aber die Zahl ist zu gering, um hier als Vergleich einbezogen zu werden.↩
Bei der Darstellung ist zu beachten, dass ein Vergleich von Daten aus zwei Zeitpunkten, wie hier, immer die Eigenschaft hat, dass die Differenz nie weniger als -100% betragen kann (dies heisst dann immer schon eine Reduktion auf null), aber sehr wohl mehr als +100 Prozent. Einige dieser Bibliotheken könnten auch zum Zeitpunkt des Eintragens der Daten für 2020 in die Bibliotheksstatistik keine Angaben zu dieser Variable gehabt haben, obwohl sie solch für 2021 liefern konnten, und dann – anstatt dieses Feld frei zu lassen, was dazu geführt hätte, dass sie hier in der Auswertung gestrichen worden wären – eine Null eingetragen haben.↩
Auffällig ist in der Graphik auch die breite Streuung bis zu 500%. Diese sind nicht einfach zu erklären. Eventuell ist dies tatsächlich das Ergebnis von sehr unerwarteten Ergebnisse in einzelnen Bibliotheken, eventuell aber auch Datenfehler. Hier wären weitergehende Studien zur Qualität der Daten in den Bibliotheksstatistiken des DACH-Raumes hilfreich.↩
Allerdings werden dieser Effizienzsteigerung, die über die Zeit eintreten sollte, die von den Anbietern durchgesetzten Preisveränderungen – zumeist ja nach oben – entgegenstehen. Für eine vollständigere Aussage wäre wohl notwendig, auch Daten zu diesen Preisveränderung von für Öffentliche Bibliotheken sinnvollen Lizenzen einzubeziehen.↩
Diese Vergleiche lassen sich bei Interesse weiterführen. Es gibt in den Bibliotheksstatistiken im DACH-Raum zum Beispiel auch Angaben zur Zahl durchgeführten Veranstaltungen, zum Etat oder Öffnungszeiten, die auf die gleiche Weise, wie die zu aktiven Nutzer*innen oder Besuche berechnet und dargestellt werden können. Da es hier aber darum ging, sich am Text von McMenemy et al. Zu orientieren, wird hier darauf verzichtet. Die Besuche wurden betrachtet, um eine mögliche Tendenz zu untersuchen.↩
Autor*innen
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Karsten Schuldt, karsten.schuldt@fhgr.ch