Wissen und Macht im archäologischen Diskurs. Die Chronologie der Oppidazeit

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Abstract

Der Aufsatz will weniger die späteisenzeitliche Besiedlungsgeschichte Süddeutschlands – das 2./1. Jh. v. Chr., die Zeit der Oppida – Revue passieren lassen, geschweige denn feinchronologische Argumente gegeneinander abwägen. Vielmehr soll ein Überblick über rund 120 Jahre Forschungsgeschichte zeigen, dass archäologische Wissenschaft keine unschuldige Suche nach Wahrheit ist, sondern ein gesellschaftliches Produkt, abhängig von soziokulturellen und politischen Bedingungen. Ein treffendes Beispiel dafür ist die deutsche Eisenzeitarchäologie nach 1945, die einerseits durch den radikalen Bruch mit der Germanenforschung des Nationalsozialismus geprägt wurde, andererseits durch die Kontinuität wissenschaftlicher Traditionen wie der ethnisch-historischen Interpretation ‚archäologischer Kulturen‘. Beide Perspektiven bestimmten das neue Großprojekt ‚Oppidum Manching‘, das 1955 startete. Zwei Aspekte bildeten die Dreh- und Angelpunkte der Diskussion, die Chronologie und die davon unmittelbar abhängige Frage nach einer keltisch-römischen kulturellen Kontinuität. Obwohl schon seit den 1930er Jahren offensichtlich war, dass das Ende der Oppida auch einen massiven Besiedlungsrückgang bedeutet hatte, weil ‒ im Unterschied zu Gallien ‒ rechts des Rheins jede archäologische Spur einer kulturellen Synthese fehlt, hielten die führenden Eisenzeitforscher der ersten Generation Zeit ihres Lebens unbeirrt an dem Postulat einer Bevölkerungskontinuität zwischen Spätlatènezeit und früher Römischer Kaiserzeit fest. Ihre argumentative Basis blieb eine Chronologie, die sich nicht auf empirisch gewonnene archäologische Parameter, sondern auf schriftlich überlieferte historische Ereignisse berief. Spätere Versuche, die Kontinuität auch naturwissenschaftlich zu untermauern, scheiterten an der unzureichenden Datenlage. Archäologisch begründete Gegenargumente stießen von Anfang an auf Ignoranz oder gar aggressive Ablehnung. All das wirft eindringlich die wissenschaftsgeschichtliche Frage auf, warum und wie sich ein methodisch so fragwürdiges Wissen zur nicht hinterfragbaren ‚Wahrheit‘ verdichten konnte, die sich noch bis in die nächste und übernächste Generation behauptete. Eine Antwort bietet M. Foucaults diskurstheoretischer Ansatz mit seiner Betonung der disziplinären Macht. Ein Längsschnitt durch sechs Phasen der Diskursgeschichte zu Chronologie und Kontinuität der Späten Eisenzeit Süddeutschlands verrät, welche Instanzen und welche Akteure diese Macht ausübten und mit welchen Praktiken sie aufrechterhalten wurde. Erst seit etwa 20 Jahren hat sich der Diskurs gewandelt, und seit etwa zehn Jahren kann man von einem Paradigmenwechsel sprechen, d. h. neue chronologische Erkenntnisse, die mit einer Diskontinuität vereinbar sind, setzen sich allmählich durch. Der Kontinuitätsdiskurs in der Archäologie der Eisenzeit nach 1945 ist ein Beispiel, das sich auf viele Bereiche der Forschung übertragen ließe: ein Beispiel für wissenschaftliche Traditionen, die im Nationalsozialismus beschädigt wurden, aber wie alle derartigen Beschädigungen nach 1945 nie reflektiert worden sind und deshalb mit allen Mitteln disziplinärer Macht der alten Ordinarienuniversität verteidigt wurden; ein Beispiel für die Macht der Eliten, das ‚Sagbare und Denkbare‘ zu regeln, abweichendes Wissen mit Sanktionen zu belegen und auf diese Weise wissenschaftlichen Fortschritt zu verhindern.

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Veröffentlicht
2018-11-23
Sprache
de
Schlagworte
Archäologie, Chronologie, Späte Eisenzeit, Spätlatènezeit, Oppidum, Helvetiereinöde, Kontinuität, Diskontinuität, Kelten, Germanen, Helvetier, Vindeliker, Südostbayerische Gruppe, Wissenschaftsgeschichte, Diskurstheorie, Foucault, Pollenanalyse, DGUF Tagung 2016