Utopie oder Uchronie?

Divergierende künstlerische Bezugnahmen auf Wirklichkeit

  • Michaela Ott (Autor/in)

Abstract

Der Beitrag geht davon aus, dass sich zeitgenössische künstlerische Praktiken - ebenso wie naturwissenschaftliche Experimente - unterschiedlich auf Wirklichkeit beziehen beziehungsweise in ihren ästhetischen Setzungen unterschiedliche Wirklichkeitsbezüge konstruieren. Um diese Diversität erkenntnistheoretisch zu fassen, plädiert er für die Wiederbelebung des philosophischen, nicht auf das Digitale reduzierbaren Begriffs des Virtuellen. In seiner Deutung durch Gilles Deleuze gibt es einen Wirklichkeitsmodus ab, der mit jenem des Aktuellen eine 'Zweiseitigkeit' des Wirklichen erstellt, welche Deleuze erkenntnistheoretisch und ästhetisch fruchtbar macht. Da er das Virtuell Aktuelle mit Zeitlichkeit und ihrer wiederholungsbedingten (Selbst)Affizierung und Differenzierung gleichsetzt, spricht er der Wirklichkeit eine oszillierende, ausdeutbare, uchroniefähige Vervielfältigungspotenz zu. Diese offenbart sich unter anderem in jenen künstlerischen Verfahren, die Zeit-Bilder erstellen und Zeitlichkeit als nicht-lineares, aus Rück- und Vorgriffen erwachsendes, sich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten dynamisierendes Geflecht aufscheinen lassen. Dieses legt nahe, das Unbekannte heute weniger in utopischen Entwürfen als in uchronischen, Zeit versetzenden, entstellenden und vervielfältigenden filmischen Kompositionen zu suchen. Das Virtuell Aktuelle in seiner Zweiseitigkeit wird damit auch erkennbar als Möglichkeit von Mediatisierung überhaupt, insofern es Verwirklichung von vermittelnden und zeitgebenden Prozessen abhängig erscheinen lässt. In einem anspruchsvollen künstlerischen Sinn ergibt sich diese aus der filmischen Exposition der Zeitigungsprozesse, aus ihrer Transformation von Bild und Ton und deren Changieren zwischen Figuration und Entfigurierung einschließlich der Betonung ihrer Kontingenz. Dass auch die digitalen Medien Virtualisierungen und uchronische Setzungen ermöglichen, wird an den zeitgenössischen Videoarbeiten von John Akomfrah gezeigt. Abschließend wird die Vermutung geäußert, dass uchronische Artikulationen schon aufgrund der Einsicht in die epistemisch-ästhetische Verflochtenheit auch der Geschwindigkeitsdivergenzen der Ausdrucksmodus der Zukunft schlechthin sein werden.

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