Die Botschaft der Toten: Bilder unmöglicher Trauer

  • Inga Schaub (Autor/in)

Abstract

Fotografien eröffnen ihren Betrachterinnen und Betrachtern einen Blick in die Vergangenheit. Ausgehend von der Analyse zweier fotokünstlerischer Projekte, beschreibe ich das Verhältnis zwischen Gegenwart und Vergangenheit in diesem Aufsatz als Verhältnis der Trauer. Die georgische Fotografin Irina Abzhandadze dokumentiert in der Reihe Opfer diejenigen Plätze in den Heimen von Familien, die dem Andenken an ein ermordetes Kind gewidmet sind. Ihre Aufnahmen aus Häusern oder Wohnungen zeigen, wo und wie dort die Toten im Portrait ihren Platz behaupten. Abzhandadzes Fotografien erlauben eine Erweiterung von Siegmund Freuds klassischer Beschreibung der "Trauerarbeit". Während Freud davon auszugehen scheint, dass das betrauerte Objekt verschwinde, sobald die libidinalen Verknüpfungen zwischen Ich und Objekt gelöst seien, legen Abzhandadzes Schwarz-Weiß-Fotografien nahe, dass das Objekt eine andere Form von Präsenz annimmt, die strukturell analog zur Präsenz eines Bildes zu denken ist. Um die Beziehung, die die Lebenden zu den zum Bild gewordenen Toten unterhalten, zu beschreiben, führe ich den Begriff "Legaslation" ein, in dem sich "Legat", "Legislatur" und "Translation" mischen und verbinden. Durch Legaslation kommt die enigmatische Botschaft der Toten auf die Gegenwart. Eine erfolgreiche Trauerarbeit im Sinne Freuds, in der das Objekt keine Rolle spielt, wird unmöglich, wenn der Trauernde nicht zum Mörder des Bildes der Verstorbenen und damit der Botschaft, die sich in diesem Bild entfaltet, werden will. Im zweiten Teil des Aufsatzes analysiere ich Herlinde Koelbls Doppelportraits, für die sie alte Fotos unlängst verstorbener Männer mit deren Söhnen als Protagonisten neu inszeniert, mit Hilfe der Begriffe "Introjektion" und "Inkorporation" aus den psychoanalytischen Arbeiten über Trauer von Maria Torok und Nikolas Abraham. In Anbetracht der Fotografien Koelbls verkompliziert und verwischt sich die Unterscheidung, die Abraham und Torok zur Beschreibung erfolgreicher und verfehlter Trauerprozesse einführten. Um die kryptische Botschaft der Toten hören zu können, muss gerade das, was uns immer fremd bleiben wird, die nicht aneignenbare Alterität des Todes, in den Blick genommen werden.

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